Spezialkrieg in Kurdistan
Drogen werden vom türkischen Regime in den kurdischen Provinzen als Mittel der Spezialkriegsführung eingesetzt. Entsprechende Beobachtungen werden insbesondere aus den Provinzen Wan (tr. Van) und Colemêrg (Hakkari) seit Jahrzehnten von Menschenrechtsdelegationen und zivilgesellschaftlichen Organisationen gemacht. Nun belegt ein Report des Büros des Menschenrechtsvereins IHD in Colemêrg erneut den Einsatz von Drogen als Mittel der Aufstandsbekämpfung. In einer Pressekonferenz im IHD von Gever (Yüksekova) wurde der Bericht von Vertreter:innen der Anwaltskammer von Colemêrg, der lokalen Abteilung der Jurist:innenvereinigung ÖHD und dem Menschenrechtsverein vorgestellt.
Der elfseitige Bericht beschäftigt sich mit der Herkunft der Drogen, der Verteilung, der Situation der Abhängigen und der Anwohner:innen. Gleichzeitig fand eine Feldstudie statt und eine Untersuchung der bestehenden Präventionsmaßnahmen. Der Bericht wurde von Pınar Zengin (IHD) vorgestellt.
„Menschen, die kein Brot finden, werden von der Polizei mit Drogen gefüttert“
Pınar Zengin teilte mit, in den durchgeführten Interviews sei festgestellt worden, dass vor allem Personen mit einem geringen oder mittleren Einkommensniveau in der Region Drogen konsumieren. Sie zitierte eine Aussage zur Verteilung der Drogen aus dem Bericht: „Wir sehen oft mit eigenen Augen, dass diese Menschen die Substanzen von Sicherheitskräften erhalten. Das sind Leute mit Pistolen am Gürtel und Funkgeräten in der Hand, sie kommen mit ihren Zivilfahrzeugen oder Skorpion-Panzerwagen, steigen an Orten aus, an denen konsumiert wird, klopfen den Leuten auf die Schulter, unterhalten sich mit ihnen und geben ihnen dann diese Stoffe in die Hand. Während die Menschen hier hungern und kein Brot mehr finden, werden sie von ihnen damit gefüttert. Alle wissen, dass drogenabhängige Menschen ohne Einkommen zu Diebstahl übergehen oder sogar Morde begehen können.“
„Abhängige werden auch von außen in die Stadt gebracht“
Zengin wies auch darauf hin, dass in letzter Zeit viele Drogenabhängige von außerhalb nach Gever kämen und dadurch eine neue Situation entstünde. Anwohner:innen seien der Auffassung, dass diese Personen gezielt in die Widerstandshochburg Gever gebracht würden. So solle die Sozialstruktur der Stadt verändert werden. Dies habe dazu geführt, dass sich die Verhältnisse in der Stadt seit 2015 massiv geändert hätten. Der Konsum von Alkohol und anderen Drogen sei angestiegen. 2015 war auch in Gever der Städtewiderstand für Selbstverwaltung mit militärischer Gewalt brutal angegriffen worden
Drogen als Druckmittel
Pınar Zengin berichtete von einigen der Aussagen von Drogenabhängigen, welche der IHD und die Untersuchungskommission gesammelt haben. Eine Person erklärte: „Die Polizisten kommen, geben den Stoff ihren Leuten und gehen. Wenn ich nicht tue, was die Polizisten sagen, schlagen sie mich, nehmen mir den Stoff weg und geben ihn den anderen und nehmen mich mit, um mich zu verhören. Entweder du bist ein Spitzel für die Polizei oder du wirst ganz anders behandelt. Ihre eigenen Leute fassen sie nicht einmal an. Was die Polizei von jungen Drogensüchtigen wie mir will, ist, dass wir Ärger machen, stehlen, schlagen, prügeln und die Häuser der Leute anzünden.“
In einer anderen Aussage hieß es: „Ich habe sechs Monate Drogen genommen. In den vergangenen zwei Monaten habe ich mit der Unterstützung eines Bruders aufgehört. Ich habe keine Behandlung erhalten. Man muss es im Kopf beenden. Drogenkonsum ist mehr als das, was man sieht. Nichts ist so, wie es scheint. Man kann Drogen von Leuten bekommen, von denen man es nie erwartet hätte. In einem Moment ist es dein engster Freund, im nächsten Moment ist es die Polizei, die sie dir bringen, oder deine Freunde nehmen Drogen. Heutzutage hat auch die Polizei Angst, Drogen zu bringen. Während der Ära von Süleyman Soylu [ehemaliger Innenminister] hatte er seine eigene Bande. Das Ziel von ihnen allen war klar. Sie wollten uns alle hier mit diesem Gift umbringen. Manchmal brachten sie Freunde auf die Polizeiwache und sorgten für zwei Schlagzeilen in den Nachrichten. Sie nannten es eine Drogenoperation und ließen dann innerhalb von zwei Stunden alle wieder frei. Süleyman Soylu hat seine Finger davon gelassen, und jetzt gibt es nur noch eine begrenzte Anzahl von Polizisten, die Drogen verteilen. Jetzt kannst du nicht mehr erkennen, wer hier wer ist. Sie geben dir Drogen und zwingen dich, als Spitzel zu arbeiten. Wenn du das nicht tust, verprügeln sie dich, dann geben sie vor deinen Augen einem anderen Freund Drogen und du musst zusehen. Natürlich verteilt nicht nur die Polizei Drogen, es gibt viele Leute, die mit ihnen zu tun haben. Manchmal geben sie es ihnen und sie verteilen es und manchmal kommen sie selbst und kontrollieren. Ich habe mich selbst gerettet, das wünsche ich den anderen ebenfalls.“
„Wir wollten nicht, dass sie zur Partei gehen, nun sind sie drogenabhängig“
Anwohner:innen trafen folgende Feststellungen: „Manchmal kommen sie und setzen sich in den Hof unseres Hauses. Sie sind unsere Jugendlichen, wir können sie nicht verjagen. Sie richten keinen Schaden an. Sie schaden uns nicht, aber sie schaden sich selbst. Wir sind natürlich traurig, aber wir können nichts tun. Gott wird die Verantwortlichen strafen, wir wissen sehr genau, um wen es sich handelt. Wir sehen auch die Einheiten, die jede Nacht hierher kommen. Sie kommen und sagen zu ihnen ‚Hey türkische Kids, was geht‘. Gott soll sie strafen. Sie sind diejenigen, die unsere Kinder zu solchen Menschen gemacht haben. Woher nehmen sie dieses Gift, wenn die jungen Leute kein Brot zu essen haben? Wer ein Hirn hat, sollte ein wenig nachdenken. Hier gibt es keine Arbeit. Wie kommt es, dass sie für dieses Gift bezahlen können? Früher hatten wir Angst, dass unseren Jugendlichen, wenn sie zur Partei gehen, etwas zustößt, dass sie irgendwo ermordet werden, jetzt sind alle Jugendlichen, bei denen wir nicht wollten, dass sie zur Partei gehen, drogenabhängig geworden. Ich wünschte, sie wären bei der Partei geblieben.“
„Das ist eine Verletzung des Rechts auf Leben“
Pınar Zengin beschrieb diese Narcopolitik als eine „Verletzung des Rechts auf Leben“ und wies darauf hin, dass es in der Verantwortung aller liege, dem Drogenkonsum in Kurdistan ein Ende zu setzen: „Es ist wichtig, dass die Menschen zusammenhalten und ein anderes Umfeld für ihre Kinder und insbesondere die Jugend schaffen. Wir erwarten, dass die politischen Strukturen der Region und alle zuständigen Nichtregierungsorganisationen und natürlich die zuständigen Behörden des Staates gegen diese Narcopolitik vorgehen. Drogenkonsum muss verhindert werden.“ Sie forderte die Behandlung von Drogenabhängigen und die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten für junge Menschen, bei gleichzeitiger Erweiterung des kulturellen Angebots.