Heute werden in der Türkei ein neues Parlament und der Staatspräsident gewählt. Für die Türkei steht ihr weiteres Schicksal auf dem Spiel. Der 68-tägige Wahlkampf steckte voller Neuheiten und Besonderheiten. Am ungewöhnlichsten verlief die Kampagne von Selahattin Demirtaş, dem Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Er ist in der politischen Geschichte der Türkei der Erste, der aus dem Gefängnis heraus für das Amt des Staatspräsidenten kandidiert.
Seine Kandidatur gab Demirtaş offiziell am 4. Mai bekannt. Den Wahlkampf konnte er nur über sein Anwaltsteam führen. Da er selbst auf der Straße nicht präsent sein konnte, mussten seine Verteidiger seine Wahlversprechen und Bewertungen übermitteln.
Vier Millionen Zuschauer bei Social-Media-Kundgebung
Für direkte Ansprachen an die Wahlberechtigten nutzte der Präsidentschaftskandidat das gefängniseigene Münztelefon, über das er alle zwei Wochen mit seiner Familie sprechen darf. Das Gespräch wurde per Kamera aufgezeichnet und in den sozialen Medien geteilt. Bis heute haben über vier Millionen Menschen das Video gesehen.
Eine weitere Besonderheit war das Recht des seit November 2016 inhaftierten Kandidaten auf eine Wahlkampfansprache im staatlichen Fernsehen. Lange Zeit wurde darüber debattiert, wie Demirtaş zur Aufzeichnung seiner Rede in das TRT-Studio gebracht werden könnte. Der türkische Wahlausschuss entschied schließlich, dass die Aufnahme im Gefängnis gemacht werden muss.
Tausende Seiten Informationen
Die wichtigste Aufgabe im Wahlkampf des HDP-Kandidaten übernahmen seine Anwälte. Sie entschlossen sich, für diese Zeit nach Edirne zu ziehen, um ihren Mandanten ständig auf dem Laufenden halten zu können. Mindestens vier Mal täglich besuchten sie Demirtaş im Gefängnis. Die Dauer der Verteidigergespräche in der Wahlkampfzeit summierte sich auf über 200 Stunden. Akribisch wurden dabei Informationen über die politischen Entwicklungen „draußen“ übermittelt sowie die Bewertungen und Botschaften des Präsidentschaftskandidaten aufgenommen, um sie über die HDP öffentlich zu machen. Wie eine Anwältin aus dem Verteidigerteam mitteilt, wurden Demirtaş täglich im Durchschnitt 250 Seiten Informationen geliefert. Diese bestanden aus Nachrichten, Kommentaren, Umfrageergebnissen sowie den Erklärungen anderer Kandidatinnen und Kandidaten.
160 Interviews aus dem Gefängnis
Großes Interesse an dem HDP-Kandidaten zeigten auch die in- und ausländischen Medien. Das erste Interview gab er – über sein Anwaltsteam – der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA). Insgesamt äußerte er sich gegenüber 40 ausländischen und knapp 120 inländischen Medieneinrichtungen.
Wird es ein Foto der Stimmabgabe geben?
Bei allen Wahlen werden Parteivorsitzende und Kandidaten bei der Stimmabgabe von Journalisten fotografiert. Nach vorliegenden Informationen hat Demirtaş beantragt, vom Gefängnisfotografen aufgenommen zu werden, wenn er seinen Stimmzettel in die Urne wirft. Der Antrag ist bisher noch nicht beantwortet, ob die Gefängnisleitung zustimmt, ist offen.