Auch wenn die wenigsten Kurd:innen in der europäischen Diaspora Abdullah Öcalan selbst noch persönlich treffen konnten, lebt „Rêber Apo“ in den Herzen, im Denken und Handeln vieler. Jedes Jahr wird sein Geburtstag rund um den 4. April gefeiert, heute wird der kurdische Vordenker 73 Jahre alt. Von Außenstehenden wird diese Verehrung von Abdullah Öcalan oft kritisch kommentiert, hat man doch mit „Führern“ gerade in Deutschland keine guten Erfahrungen gemacht. Der böse Begriff „Personenkult“ geht um.
Ehe man sich dieser (Vor-)Verurteilung anschließt, wäre ein Blick auf die Kultur und Geschichte geboten. Die kurdische Freiheitsbewegung entstand in einer Zeit und in einer Ecke der Welt, die tief von patriarchalen und feudalen Denkmustern geprägt war. Abdullah Öcalan hat mit seinen Mitstreiter:innen die kurdische Identität neu „erweckt“ und einen Weg aufgezeigt, sich aus der kolonialen Unterdrückung zu befreien. Er setzte auf gesellschaftliche Organisierung und Selbstermächtigung und war letztlich Motor einer Widerstandsbewegung mit einer mittlerweile fast ein halbes Jahrhundert andauernden Geschichte, die auch in Europa gerne gefeiert wird.
In späteren Jahren entwickelte Öcalan ein umfangreiches theoretisches Fundament, das zum Paradigma der PKK wurde und unter anderem als Blaupause für die Revolution in Rojava und den demokratischen Konföderalismus diente. Doch erklärt dies allein die „Verehrung“, die Millionen von Menschen „Rêber Apo“ entgegenbringen, der seit 1999 von seiner Partei und seinem Volk isoliert auf der Gefängnisinsel Imrali eingesperrt lebt?
Viele Anekdoten sind überliefert, die von Öcalans Charisma erzählen. Immer wieder betont wird seine Empathie und Entschlossenheit, sich niemals zu beugen. Vor allem ist von seiner unerschütterlichen Gewissheit die Rede, dass auch in scheinbar aussichtslosen Situationen das Licht über die Dunkelheit siegen wird. Öcalan vermochte es, den Menschen Hoffnung zu geben.
Auch wenn es den Materialisten in Europa nicht gefallen mag, die „Moral“, die Öcalan in Wort und Bild, in Liedern und Geschichten den Menschen gibt, sind der Motor für den auch über lange Durststrecken andauernden Willen zum Widerstand. Diese „Moral“ setzt sich fort in der nächsten Generation der apoistischen Bewegung. Man findet sie in jeder Begegnung mit den „Kadern“, die spüren lassen: Es geht nicht um linke Lippenbekenntnisse für ein freies Leben. Die Menschen, die sich von Öcalan inspirieren ließen, trotzen der kapitalistischen Moderne mit all ihren neoliberalen Versuchungen. Sie sind täglich im Widerstand und mit ihrer Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit Vorbilder für ein freies, selbstbestimmtes und „natürliches“ Leben. Sie halten auch unter widrigsten Umständen an den Grundfesten eines genossenschaftlichen Lebens fest und sind bereit, dieses hart erkämpfte Leben in Würde und Selbstachtung auch zu verteidigen.
Die heutigen Geburtstagsfeiern in vielen kurdischen Gesellschaftszentren für „Rêber Apo“ sind Ausdruck und Bekräftigung, gemeinsam den Weg des Vorsitzenden der PKK fortzusetzen. In Kurdistan werden Bäume als Symbol für das neue Leben gepflanzt. Mit der immerwährenden Forderung nach Öcalans physischer Befreiung verbunden ist die Hoffnung auf eine Lösung der „kurdischen Frage“ und des Aufbaus einer „demokratischen Nation“ als Alternative zum Konzept der Nationalstaaten, die zu Krieg, Tod und Verwüstung führen – wie das jüngste Beispiel des Kriegs gegen die Ukraine wieder einmal zeigt.