Reise nach Amara

1974 besuchte Abdullah Öcalan mit Cemil Bayik seine Familie in Amara. Sein Vater sagte zu ihnen: „Erst wart ihr Linke und Kommunisten, jetzt seit ihr Kurden geworden. Die kurdische Frage ist ein großes Problem. Wie werdet ihr da wieder herauskommen?“

Abdullah Öcalan wird am Sonntag 72 Jahre alt. Seit vielen Jahren strömen am 4. April Menschen an seinen Geburtsort in das Dorf Amara in der nordkurdischen Provinz Riha (tr. Urfa). Um die Atmosphäre in dem Dorf mitzuerleben, steige ich in Riha in einen Bus. Im Bus sitzen zwölf Menschen, die aus den Dörfern in der Umgebung für ihren Monatseinkauf in die Stadt gefahren waren. Bis wir Amara erreichen, fahren wir durch sieben Dörfer. Es ist Frühling und auch im Bus ist der Geburtstag von Öcalan Gesprächsthema.

Eine Mutter erklärt ihrer dreizehnjährigen Tochter: „Ab dem 2. April wird die Zufahrt nach Amara vom Staat gesperrt, damit die Menschen nicht in das Dorf gelangen können.“ Die Tochter fragt nach dem Grund. „Niemand soll an dem Geburtstag teilnehmen“, antwortet die Mutter. Die Fahrt endet im armenischen Dorf Ereh. Der Fahrer begreift, dass ich hier fremd bin. „Willst du nach Amara?“, fragt er. Als ich bejahe, bietet er an, mich dorthin zu fahren.

Ich bin zum zweiten Mal zu Gast in Abdullah Öcalans Geburtshaus. Als ich aus dem Fahrzeug aussteige, erfasst mich die Aufregung darüber, dass ich die Wege seiner Kindheit beschreite. An der Tür werde ich von seinem jüngeren Bruder Mehmet Öcalan empfangen. Er fragt mich, ob ich Hunger habe. Ich verneine und er sagt: „Das hier ist Seroks Haus. Kein Gast darf wieder gehen, ohne gegessen und getrunken zu haben.“

Nach einer Weile frage ich ihn nach seinen Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend der beiden Brüder. Er beginnt zu erzählen: „Wir sind in Amara geboren. Weil es hier keine Schule gab, ist Serok im Dorf Cibînê zur Schule gegangen. Damals waren die Dörfer arm. Serok hat jeden Morgen ein Brot mit Ei mitgenommen. Seine Schulnoten waren sehr gut. Im Sommer weckte er uns am frühen Morgen und ging mit uns in den Garten. Er hatte Tauben, die er sehr liebte. Ab und zu kamen unsere Freunde Hasan, Tayyar und Aziz aus dem Dorf mit uns.“

Nach der Grundschule ging Abdullah Öcalan drei Jahre lang in Nizip zur Schule und schloss das Gymnasium in Ankara ab, erzählt sein Bruder Mehmet Öcalan: „Ich war damals beim Militär. Meinen Militärdienst habe ich in Ankara abgeleistet. Serok war an der Fakultät für Politikwissenschaften in Ankara angenommen worden, aber davon wusste ich nichts. Als er mich einmal besuchte, sagte er, dass er vielleicht demnächst verhaftet wird. Ich fragte nach dem Grund und er sagte: ,Mahir Çayan und seine Freunde sind getötet worden. Wir haben deswegen drei Tage lang die Universität boykottiert.'

Später schickte er mir einen Brief, in dem er schrieb, dass er verhaftet worden ist und sich im Gefängnis Mamak befindet. Ich wollte ihn besuchen und fuhr nach Mamak. Ich trug Uniform und musste stundenlang am Tor warten. Irgendwann kamen Militärs und sagten, dass es mir als Soldat verboten ist, politische Gefangene zu besuchen. Ich antwortete, dass ich das nicht wusste und nur meinen Bruder sehen wollte. Sie akzeptierten das nicht und führten mich in Handschellen ab. Ich wurde vor Gericht gestellt und zu einer zehntägigen Disziplinarstrafe verurteilt. Ich kam in eine Art Gefängnis. Serok schickte mir einen weiteren Brief und fragte nach, warum ich ihn nicht besuche. Als ich es ihm erklärte, antwortete er, dass Angehörige immer ein Besuchsrecht haben. Er blieb sechs oder sieben Monate im Gefängnis.“

Mehmet Öcalan erzählt weiter, dass er selbst nicht zur Schule gegangen ist, weil sein Vater schon alt war und er ihm bei der Feldarbeit helfen musste: „Eines Tages im Herbst kamen Serok und Cemil Bayik nach Hause. Wenn ich mich nicht irre, war das 1974. Meine Mutter war eine harte Frau, aber Gastfreundschaft war ihr sehr wichtig. Sie machte Essen. Mein Vater sagte zu Serok und Cemil Bayik: ,Erst wart ihr Linke und Kommunisten, jetzt seit ihr Kurden geworden. Die kurdische Frage ist ein großes Problem. Wie werdet ihr da wieder herauskommen?' Die beiden sagten nichts dazu.“

15. Februar 1999: Ein finsterer Tag

Von dem Tag, an dem Abdullah Öcalan vor 22 Jahren mit einem internationalen Geheimdienstkomplott in die Türkei verschleppt wurde, berichtet sein Bruder:

„Der 15. Februar war ein finsterer Tag. Die Verhaftung von Serok war eine Botschaft an alle Kurden. Wir wussten natürlich, dass er Syrien verlassen hatte. In jener Zeit waren wir nach Adana vertrieben worden. Von dem Komplott erfuhren wir aus den Medien. Ich hörte die ganze Zeit BBC. Bevor der Staat eine Erklärung dazu abgegeben hatte, berichtete BBC von der Verhaftung. Das Volk Kurdistans befand sich plötzlich mitten im Feuer. Auf der ganzen Welt gingen Menschen auf die Straßen. Die Kurden und ihre Freunde protestieren gegen seine Auslieferung in die Türkei. Zahlreiche Menschen zündeten sich aus Protest an. Das kurdische Volk hatte Serok Apo als seinen Anführer anerkannt und kämpfte für ihn.“

Das Anwaltsteam von Abdullah Öcalan wollte eine Besuchserlaubnis erwirken und Mehmet fuhr mit seiner Schwester Havva nach Istanbul: „Wir stiegen abends in Adana in den Bus und kamen am nächsten Tag in Istanbul an. Weltweit waren die Menschen auf den Beinen. In Istanbul brannte es 24 Stunden am Tag. Überall fanden große Aktionen statt. Wenn ich mich richtig erinnere, holte Osman Baydemir uns vom Busbahnhof ab. Wir fuhren mit dem Taxi zum Menschenrechtsverein IHD. Die Medien meldeten, dass Serok nach Imrali gebracht worden ist. Wir gaben den Anwälten ein Mandat und blieben einige Tage in Istanbul. Jeden Tag beantragten wir eine Besuchserlaubnis, die jedes Mal abgelehnt wurde. Wir kehrten nach Adana zurück und verfolgten weiter die Medien.“

Zwei Wochen später kam die erlösende Nachricht von Öcalans Verteidigern: Mehmet und Havva sollten nach Imrali übersetzen. Sie fuhren erneut nach Istanbul: „Dort waren wir sofort vom Geheimdienst umringt. Wir merkten es, weil das ganz offen war. Zusammen mit den Anwälten übernachteten wir bei einer Familie aus Serhad. Die Polizei umstellte das Haus. Von den Anwälten waren Hatice Korkut und Mahmut Şakar dabei. Zu viert verließen wir das Haus und stiegen in ein Auto. Wir wurden von der Polizei verfolgt. Wir fuhren über Yalova nach Gemlik, stiegen auf die Fähre und setzten zur Insel Imrali über. Es war ein kleines Boot, das im Wellengang stark schwankte. Wir dachten, dass es kentern würde. Auf der Insel wurden wir durchsucht. Ich hatte mir vorher gesagt, dass wir nicht emotional werden und weinen dürfen. Nach etwa einer halben Stunde kam er. Wir begrüßten uns und er sagte zu mir: ,Wir haben uns zwanzig Jahre nicht gesehen und du hast dich überhaupt nicht verändert.' Er sah sehr erschöpft aus. Er hatte ja auch Schlimmes erlebt und die Umstände waren sehr schwer. Nach zwanzig oder dreißig Minuten war die Besuchszeit zu Ende. Nach uns kamen die Anwälte an die Reihe. Danach kehrten wir mit dem Boot nach Gemlik zurück. Bis nach Yalova wimmelte es von Menschen. Dieser erste Besuch war sehr anstrengend.“

Bei den weiteren Besuchen habe Abdullah Öcalan immer gesagt, dass er alles unternehmen will, damit es zu einer Lösung kommt, erzählt sein Bruder weiter: „Er stand jedoch immer unter einem Embargo. Bis 2015 wurden viele Besuche verboten, aber seitdem war es ganz aus. Es war eine ziemlich schlimme Zeit. Serok interessierte sich von Anfang an nur für eine Sache, und zwar die kurdische Frage. Er sagte, dass er das Problem auf demokratischen Wegen lösen möchte. Er sprach häufig von der Bedeutung von Şengal, auch zu Rojava äußerte er sich oft.“

Nach dem großen Hungerstreik konnten 2019 wieder einige wenige Besuche auf Imrali stattfinden, berichtet Mehmet Öcalan weiter: „Danach hat wieder die Isolation eingesetzt angefangen. Zuletzt war ich nach dem Brand auf Imrali am 2. März 2020 dort. Der Besuch verlief sehr schwierig. Die Durchsuchungen beim letzten Mal waren so schlimm, dass sie nicht hinnehmbar waren. Als Serok kam, sagte er, dass wir uns nicht die Hand geben sollten, weil bei mir Fieber festgestellt worden sei. Bereits damals hat er auf die Virusgefahr hingewiesen.“