Schleppende Ermittlungen zum Pariser Anschlag

Seit dem tödlichen Anschlag gegen das kurdische Kulturzentrum in Paris sind über zwei Monate vergangen. Die Ermittlungen verlaufen schleppend und es gibt viele offene Fragen. Die kurdische Community ist beunruhigt.

Vor über zwei Monaten waren Kurdinnen und Kurden in Paris das Ziel eines terroristischen Anschlags in der Rue d’Enghien. Dieser Anschlag war nicht der erste. Am 9. Januar 2013 wurden die drei kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Leyla Şaylemez und Fidan Doğan bei einem ähnlichen Attentat in Paris ermordet. Es war kein Zufall, dass der zweite Pariser Anschlag am 23. Dezember 2022 während der Vorbereitungen für das Gedenken an diese drei Kurdinnen stattfand. Der 69-jährige Schütze William M. zielte auf das Kurdische Kulturzentrum Ahmet Kaya, in dem die Vorbereitungen für die Gedenkfeier am 9. Januar liefen. Danach schoss er auf ein kurdisches Restaurant auf der anderen Straßenseite und anschließend auf den Friseursalon eines kurdischen Inhabers.

Bei dem Angriff wurden drei Menschen schwer verletzt und die Vertreterin der kurdischen Frauenbewegung in Frankreich, Evîn Goyî (Emine Kara), der Musiker Mîr Perwer (Mehmet Şîrîn Aydin) und der langjährige Aktivist Abdurrahman Kızıl getötet. Der Schütze wurde anschließend unter dem Vorwurf des „Mordes aus rassistischen Motiven" verhaftet. Der Demokratische Kurdische Rat Frankreichs (CDK-F) und die kurdische Frauenbewegung forderten von Anfang an, dass der Angriff als terroristischer Anschlag eingestuft wird.

Selma Akkaya von der Tageszeitung Yeni Özgür Politika hat mit Agit Polat, dem Sprecher des CDK-F, über den Anschlag und die danach eingeleiteten Ermittlungen gesprochen.

Werden Beweise geschwärzt?

Agit Polat erklärte, er sei besorgt über den Ermittlungsprozess: „Was uns seit Anschlag beunruhigt, ist die Langsamkeit der Justiz. Wir sind besorgt darüber, was auf rechtlicher Ebene passiert ist oder was bisher geschehen ist. Die Justiz ist langsam. Zumindest sehen wir das im Moment so. Das beunruhigt uns natürlich, denn die Langsamkeit dieses Prozesses wirft für uns die Frage auf, ob Beweise geschwärzt werden."

Wie kam der Mörder zum Tatort?

Als Beispiel sagte Polat: „Wir haben zum Beispiel keine Informationen darüber, ob der Mörder zu Fuß oder mit dem Auto gekommen ist. Wir haben keine Aufnahmen davon gesehen. Man sagt uns, dass er allein war, aber es wurden keine Bilder oder Informationen darüber in die Akte aufgenommen. Hundertprozentige Beweise zu diesem Thema wurden uns nicht vorgelegt. Bei ähnlichen Anschlägen in Frankreich wurden sofort verschiedene Aufnahmen veröffentlicht, auf denen die Täter auf dem Weg zum Tatort zu sehen sind. Diese werden in die Akten aufgenommen. In unserem Fall gibt es bislang keine Bilder. Die einzige Aufnahme ist aus dem Friseursalon, und die wurde von den kurdischen Medien veröffentlicht. In der Akte heißt es, dass der Täter allein war, aber wir konnten noch nicht nachvollziehen, wie allein er in dieser Sache war. Wir sind davon nicht überzeugt."

Mysteriöse Hausdurchsuchung einen Monat später

Polat äußerte sich zu einem weiteren Punkt in der Akte: „Der zweite Punkt ist die Razzia in der Wohnung des Mörders William M. genau einen Monat nach dem Anschlag, in einer Gegend namens Livry Gargan. Wir haben davon natürlich nur aus den Medien erfahren. Was waren die Gründe für die Razzia in diesem Haus einen Monat nach dem Vorfall? Was wurde bei dieser Razzia sichergestellt? Wurde etwas gefunden oder nicht? Was noch wichtiger ist: Wurde das Haus bereits einen Monat vor der Razzia überwacht? Welche Gründe veranlassten den Ermittlungsrichter, die Wohnung zu durchsuchen? Das sind die Fragen, die wir uns in erster Linie stellen. Zum jetzigen Zeitpunkt sieht es so aus, dass die Wohnung einen Monat lang nicht inspiziert wurde. Es ist alles sehr unklar."

Eine Kette von Fragen und Unklarheiten

Die Unklarheiten beschränkten sich nicht nur auf die Hausdurchsuchung, sagte Polat weiter: „Es ist auch immer noch unklar, woher die bei dem Anschlag verwendete Waffe stammt. Auch die Angabe, dass der Mörder zuerst nach Saint Denis gefahren, einem Pariser Vorort, in dem vor allem Einwanderer leben, ist nicht eindeutig. Anfangs hat er das nicht erwähnt. Während des Verhörs wurde er gefragt, wie sein Tagesablauf am 23. Dezember war und was er an diesem Morgen gemacht hat. William M. sagte: ,Ich bin aufgewacht, habe die Waffe genommen und bin zum kurdischen Zentrum gefahren.' Die Polizei fragte, was er dort tun wollte, und er antwortete: ,Ich wollte dort einen Anschlag verüben, weil die Kurden IS-Mitglieder gefangen genommen haben, anstatt sie im Kampf zu töten. Heute schicken sie sie Stück für Stück in unser Land zurück.' Das war einer der Punkte, die der Mörder zum Ausdruck brachte. Aus diesem Grund, so sagt er, sei der Wunsch entstanden, das Zentrum der kurdischen demokratischen Gesellschaft in Paris anzugreifen. Parallel dazu zielt er bei der ersten Person, die er angegriffen hat, auf Evîn Goyî, die gegen den IS gekämpft hat, an vorderster Front und als Kommandantin. Kann es einen solchen Zufall geben? Ist es wirklich möglich, dass ein Psychopath kommt und eine Person ins Visier nimmt, die als Kommandantin gegen den IS gekämpft hat? Wenn es um Kurden geht, kann es so etwas wie Zufall nicht geben. Wir glauben nicht an einen solchen Zufall. So etwas ist auch nicht möglich."

Evîn Goyî (Emine Kara)

Ermittlungen kontrieren sich auf rassistisches Motiv

Hinsichtlich des vermeintlichen rassistischen Motivs des Mörders erklärte Polat: „Wir sind besorgt darüber, dass der Untersuchungsrichter die Ermittlungen in der jetzigen Phase so führt, als ob es sich um einen gewöhnlichen rassistischen Angriff handelt. Soweit wir über unsere Anwälte erfahren haben, führt dieser Untersuchungsrichter die Ermittlungen in diesem Rahmen durch. Er ist unseres Wissens nach der Meinung, dass der Angriff von einem rassistischen Einzeltäter organisiert wurde und es kein Terroranschlag war. Diese Situation ist offen gesagt besorgniserregend. Denn die Aufgabe der Untersuchungsrichter besteht nicht darin, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Meinung zu bilden und die Ermittlungen bis zu diesem Punkt zu führen. Sie müssen eine konkrete Situation aufdecken, indem sie alle möglichen Möglichkeiten in Betracht ziehen. Das ist ihre Hauptaufgabe. Im Moment haben wir es mit einer Situation zu tun, in der der Untersuchungsrichter zu dem Schluss gekommen ist, dass es sich bei dem Vorfall um einen rassistischen Angriff handelt, und er versucht, auf dieser Grundlage weiterzuarbeiten. Und das ist keine Situation, die wir akzeptieren können oder akzeptieren werden. In diesem Zusammenhang haben wir über unsere Anwälte einige Kontakte geknüpft, wir haben einige Maßnahmen ergriffen. Wir haben auch klar gesagt, dass diese Situation ernsthaft untersucht und die Ermittlungen fortgesetzt werden müssen. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir keine Ermittlungen sehen, mit denen dieser Vorfall in einer sehr detaillierten Weise aufgeklärt werden kann. Nicht in diesem Stadium. Wenn man wollte, hätte man die Razzia in dieser Wohnung durchführen können, ohne einen Monat zu warten. Wir müssen herausfinden, was die Gründe für diese Verzögerung waren.“

Verschlüsselter Brief von der Mutter des Mörders?

Polat fuhr fort: „Ein weiterer wichtiger Punkt ist ein Brief, der von der Mutter des Mörders am 12. Januar geschrieben wurde. Dieser Brief ist offensichtlich verdächtig und interessant. Er wurde dem Ermittlungsrichter von der Gefängnisverwaltung übergeben. In dem Brief kommen interessante Dinge vor. So erwähnt die Mutter in dem zweieinhalb Seiten langen Brief an keiner Stelle den Anschlag, den ihr Sohn am 23. Dezember verübt hat. Es geht um unzusammenhängende Themen und es gibt viele interessante Details. Von einige Teilen nehmen wir an, dass sie verschlüsselt sind, denn es werden Telefonnummern genannt und Ärzte erwähnt. Außerdem sind einige Zeiten angegeben. Zum besseren Verständnis zum Beispiel: Ich war bei diesem Arzt um diese und jene Zeit, an diesem und jenem Datum, und das war die Telefonnummer. Es gibt noch mehr Nummern, es gibt Leute, die sie Afrikaner nennt und erwähnt. Es ist ein merkwürdiger Brief. Er wurde ihm nicht ausgehändigt. Wir wissen nicht genau, welche Art von Untersuchung von der französischen Ermittlungsgruppe durchgeführt wurde, um diesen Brief zu entziffern. Wir wissen auch nicht, ob die Mutter zu diesem Brief befragt wurde."

Wer hat den Mörder geschützt?

Polat wies darauf hin, dass auch die früheren Verfahren gegen William M. zwielichtig waren: „Wenn wir uns die früheren Fälle dieses Mörders ansehen, sehen wir das Profil einer Verbrechensmaschine. Er schießt zum Beispiel auf Menschen mit der Begründung, sie seien in seine Wohnung eingedrungen. Er verletzt sie mit einem Messer. Bei diesen Menschen handelt es sich um Obdachlose. Während diese Menschen versuchen zu fliehen, verwundet er sie außerhalb des Hauses mit einer Waffe. Diese Waffe wird interessanterweise nicht gefunden. Damals wurde der Mann wegen Notwehr freigelassen. Bei dem Angriff im 12. Pariser Bezirk, der zu seiner einjährigen Haftstrafe führte, betrat er ein Lager von Migranten. Dort verletzte er Menschen. Er erhält die gleiche Strafe wie die Menschen, die er verletzt hat. Die verletzten Migranten werden zu zwölf Monaten verurteilt. Der Mörder erhält ebenfalls zwölf Monate. Das Interessante dabei ist, dass er nicht wegen versuchten Mordes angeklagt wurde. Er wird wegen einer Schlägerei verurteilt und innerhalb eines Jahres freigelassen.“ Die fragliche Vergangenheit des Mörders müsse noch einmal überprüft und untersucht werden, und es sollte aufgedeckt werden, von wem er geschützt wird.

Juristischer Kampf

Abschließend erklärte Agit Polat: „Was ich sagen möchte, ist, dass alle Voraussetzungen erfüllt sind, damit dieser Fall von einer Anti-Terrorismus-Staatsanwaltschaft nach französischem Recht bearbeitet werden kann. Wir sind besorgt über die Bemühungen, diesen Vorfall so darzustellen, als handele es sich nur um einen rassistischen Angriff, und die Ermittlungen nur in diesem Rahmen zu führen. Gleichzeitig sind wir besorgt über das langsame Tempo der Ermittlungen, die ständigen Versuche, den Fall zu ignorieren und in Vergessenheit geraten zu lassen, und über das Fehlen einer transparenten Untersuchung. An diesem Punkt ziehen wir auch Vergleiche mit den Ereignissen von 2013. Daraus ziehen wir ebenfalls Schlussfolgerungen. Es gibt sowohl politische als auch rechtliche Konsequenzen. Wir gehen an diesen Fall heran, indem wir diese Schlussfolgerungen in Betracht ziehen. Zumindest betrachten wir den Verlauf dieses Falles mit den Ergebnissen, die wir daraus gezogen haben, und wir führen unseren juristischen Kampf und unsere diplomatischen Aktivitäten in diesem Sinne durch. Wir versuchen, den Fall zu verfolgen. Wie ich bereits sagte, gibt es in diesem Fall eigentlich nichts Neues. Aber in den kommenden Wochen könnte es einige konkrete Entwicklungen geben. Wir werden mit den Erklärungen der Kläger eine höhere Stufe erreichen. Einige Dinge werden in diesem Stadium konkreter sein.“