Murat Karayilan: Türkische Aggression folgt einem Konzept

Murat Karayilan bezeichnet die türkischen Angriffsdrohungen als Kriegserklärung gegen das gesamte kurdische Volk, nicht nur an die Bevölkerung von Rojava: „Es handelt sich um das allgemeine Konzept des kolonialistischen türkischen Staates.“

Als Mitglied des PKK-Exekutivrates hat sich Murat Karayilan in einer Sondersendung bei Sterk TV zu den türkischen Luftangriffen auf zivile Siedlungsgebiete in Südkurdistan und der drohenden Militärinvasion in Rojava geäußert:

„Der kurdische Befreiungskampf befindet sich in einer wichtigen Phase. Die aktuellen Entwicklungen sind für das kurdische Volk von großer Bedeutung. Der Befreiungskampf hat ein bedeutendes Niveau erreicht, was unseren Feinden Angst bereitet. Sie sehen die Freiheit der Kurdinnen und Kurden als Bedrohung für sich selbst. Aus diesem Grund greifen sie an. Der Grund für ihre Aggressivität ist die Stärke, die die kurdische Befreiungsbewegung erlangt hat.

Türkei brüstet sich schamlos mit dem Tod ziviler Menschen

In Mexmûr sind vier kurdische Zivilistinnen und in Şengal drei Arbeiter aus Kobanê bei türkischen Luftangriffen ums Leben gekommen. Es handelt sich dabei um sehr feige und niederträchtige Angriffe, die nicht unbeantwortet bleiben werden. Der Feind brüstet sich damit und spricht von einem großen Erfolg. Er hat zwanzig Kampfflugzeuge aufsteigen lassen und sieben unschuldige Menschen getötet. Die Angriffe auf Zivilisten und insbesondere auf Frauen bezeichnet er schamlos als Erfolg. Es ist ihm egal, ob es sich es sich um kurdische Zivilisten, Frauen oder Kinder handelt, er tötet alle. Wir haben es mit einem Feind zu tun, der sich selbst dafür lobt, die Zivilbevölkerung Kurdistans zu ermorden. Wie es im Moment aussieht, wird er diese feigen Angriffe fortsetzen. Dagegen wird unser Volk weiter Widerstand leisten und wir werden unseren Kampf weiterführen.

Türkische Angriffe nicht im Alleingang

Die Angriffe auf Mexmûr und Şengal hat der türkische Staat nicht allein durchgeführt. Ohne Unterstützung und Zustimmung wäre es schwierig gewesen, mit zwanzig Kampffliegern so weit im Landesinneren anzugreifen. Die Angriffe fanden innerhalb weniger Minuten statt. In der Geschichte Kurdistans haben häufig solch niederträchtige Angriffe der kolonialistischen Staaten stattgefunden. Dasselbe geschieht auch heute wieder. Das faschistische Regime in Ankara erklärt, dass die PKK angegriffen worden ist. In Şengal sind die HPG jedoch gar nicht. Dort gibt es nur ezidische Selbstverteidigungskräfte, die sich aus Menschen aus der dortigen Bevölkerung zusammensetzen. Trotzdem greift der türkische Staat Şengal an. Bei dem Mexmûr-Camp handelt es sich um ein ziviles Siedlungsgebiet. Wenn es um das Camp herum eine Verteidigung zum Schutz vor dem IS und anderen dschihadistischen Gruppierungen gibt, warum greift der türkische Staat dort an?

Türkei und IS verfolgen dieselbe Marschroute

Der IS hat zuerst Şengal angegriffen, von dort aus Mexmûr und Kerkûk und dann Kobanê. Dieselben Orte werden jetzt von Erdoğan angegriffen. Als der IS 2014 diese Orte angegriffen hat, war die treibende Kraft das faschistische Regime in Ankara. Der IS und Ankara verfolgen die gleichen Pläne und dieselbe Marschroute. Was dem einen nicht gelingt, versucht der andere auszuführen.

In diesem Rahmen sind die gegen Rojava und Nordostsyrien bedeutungsvoll. Zunächst muss dazu gesagt werden, dass es nicht einfach ist, diese Gebiete anzugreifen. Sowohl politisch als auch militärisch birgt ein Angriff viele Schwierigkeiten für das Regime in Ankara. Es handelt sich jedoch um eine Kriegserklärung an das kurdische Volk, nicht nur an die Bevölkerung von Rojava. Es geht um das allgemeine Konzept des kolonialistischen und verbrecherischen türkischen Staates. Seit drei Jahren sprechen wir immer wieder davon und teilen diese Erkenntnis vor allem auch mit den zuständigen Stellen in Südkurdistan. Das neue Konzept des türkischen Staates beinhaltet, dass das kurdische Volk nicht nur innerhalb der Grenzen der Türkei, sondern auch außerhalb angegriffen, besetzt und unter Kontrolle gebracht wird.

Ein Status für die Kurden

Wir als Bewegung sagen, dass im Mittleren Osten ein Krieg herrscht, aus dem eine Neuordnung hervorgehen wird, und dass wir als kurdisches Volk darin einen Platz haben wollen. Ankara hingegen sagt, dass Krieg herrscht, anschließend eine Neuordnung entstehen wird, die Türkei dabei mitmischen und angreifen sollte, weil sich für die Kurden ansonsten ein Status ergeben könnte und die Entstehung eines Kurdistans die Türkei zersplittern würde. Aus diesem Grund müssen alle Kurden unter Kontrolle gebracht werden und die Türkei muss von der Neuordnung profitieren, indem die im Nationalpakt Misak-i Milli vorgesehenen Grenzen Gültigkeit bekommen.

Und was sind diese Nationalpakt-Grenzen? Sie umfassen das Gebiet von Aleppo über Şengal und Mosul bis nach Kerkûk. Der türkische Staat geht mit diesem Ziel vor. Früher hat er nur in Nordkurdistan angegriffen und Südkurdistan bombardiert, aber wie man sieht, ist er inzwischen in Syrien eingedrungen und bis nach Cerablus, Bab, Azaz und Efrîn gekommen. Jetzt will er ganz Rojava einnehmen. Es geht dabei nicht nur um Rojava, sondern um ganz Kurdistan. Dieses Konzept verfolgt ausschließlich das Ziel, einen Status für die Kurden zu verhindern. Der türkische Staat sagt ja auch, dass es ein Fehler war, nicht einzugreifen, als Südkurdistan zu einer Föderation geworden ist. Jetzt meint er, alles tun zu müssen, um zu verhindern, dass Rojava einen ähnlichen Status bekommt.

Das System Rojava: Geschwisterlichkeit statt klassischem Nationalismus

Die Angriffspläne auf Rojava verfolgen jedoch noch einen weiteren Zweck. In Rojava wird ein ganz neues demokratisches System aufgebaut. Die Geschwisterlichkeit und Einheit der Völker, das Paradigma einer demokratischen Nation, nehmen konkrete Formen an. Dabei handelt es sich um eine neue Linie. Es geht nicht um die klassische Vorstellung einer Nation, sondern um die demokratische Nation. Dass kurdische, arabische, aramäische und sogar turkmenische Menschen zusammenkommen und ein eigenes System aufbauen, geht über das Auffassungsvermögen des türkischen Staates hinaus. Es löst Verblüffung und Wut aus. Gleichzeitig ist allen klar, dass es sich um die Ideen Abdullah Öcalans handelt, die nach Ansicht des türkischen Staates nicht nur die Türkei, sondern die gesamte kapitalistische Moderne bedrohen. Aus diesem Grund ist auch keine Weltmacht für Efrîn eingetreten. Die Besatzung ist stillschweigend zugelassen und befürwortet worden. Offensichtlich fürchtet auch die internationale Staatengemeinschaft das Paradigma einer demokratischen und freiheitlichen Nation der Völker. Am meisten Angst hat jedoch der türkische Staat.“