Max Zirngast darf Türkei nicht verlassen

Gestern fand in Ankara der erste Verhandlungstag im Prozess gegen den Österreicher Max Zirngast statt. Er ist der Mitgliedschaft in einer nicht existenten Terrororganisation angeklagt. Das Ausreiseverbot bleibt bestehen.

Am Vormittag des 11. April 2019 fand der erste Prozesstermin des Politikwissenschaftlers, Autors und Aktivisten Max Zirngast und der mit ihm angeklagten Hatice Göz, Mithatcan Türetken sowie Burçin Tekdemir statt. Letztere war gemeinsam mit den anderen am 11. September des Vorjahres festgenommen, nach zehn Tagen Polizeigewahrsam allerdings freigelassen worden. Allen vieren wird vorgeworfen, Mitglied „der illegalen Terrororganisation TKP/K“ zu sein. Mitglieder der Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast, die Eltern von Max Zirngast sowie weitere internationale Beobachter*innen waren vor Ort, um den Prozess zu begleiten. Der Termin fand vor der 26. Strafkammer für schwere Straftaten in Ankara statt.

Die Kampagne für die Freilassung von Max Zirngast teilt zum Prozess mit:

Zunächst verteidigte sich Hatice Göz als Sozialistin, Öko-Aktivistin und allen voran als Feministin der Kampüs Cadıları (Campushexen), die mitnichten die legale Verlängerung einer terroristischen Vereinigung seien. Die Kampüs Cadıları würden sich seit 2015 gegen die patriarchale Gewalt in der Türkei und vor allem an Universitäten einsetzen und Theorie-Seminare und praktische Workshops sowie vieles mehr veranstalten. Hatice verglich die gegen sie und andere feministische Aktivist*innen laufenden Prozesse mit der Verfolgung von Hexen im Mittelalter und argumentierte: „Ich kann nicht verstehen, wie feministischer Einsatz gegen patriarchalen Terror so ausgelegt werden kann, als sei man selbst Teil einer Terrororganisation. Die Männer, die Gewalt gegen Frauen anwenden, werden nicht gefragt, ob sie Teil einer Terrororganisation sind. Das werte ich als Sexismus.“ Sie arbeite auf legitimer und legaler Grundlage. Hatice wies alle Anklagepunkte zurück.

Max Zirngast wird als „Ankara-Verantwortlicher der Terrororganisation TKP/K“ angeklagt. Im Vorfeld hatte ihm das Gericht verwehrt, eine_n Übersetzer_in kostenlos zur Verfügung zu stellen. Zuerst sprach Max gegen den Eindruck an, der in der Anklage und nun auch vor Gericht entstehe. Schon im Vorfeld wurde etwa von der Tageszeitung Sabah oder anderen regierungsnahen Zeitungen dreist behauptet, er sei ein „Agent im Journalismus-Tarnmantel“, aber auch in der Anklageschrift gebe es bodenlose Anschuldigungen und haltlose Vermutungen, die als „wahr“ präsentiert würden. Allen voran würde, so Max, schon immer die tendenziöse Frage gestellt: Warum ist der Österreicher hier? Er machte deutlich: „Ich mag die Türkei. Ich habe gut genug Türkisch gelernt, um mich nun hier vor dem Gericht verteidigen zu können. Als hier Bomben in die Luft flogen und ein Militärputsch stattfand, fingen die Menschen, insbesondere junge Studierende und ausländische Journalist*innen an, das Land zu verlassen. Ich bin hiergeblieben. […] Ich habe mir hier ein Leben aufgebaut, und die Razzia samt anschließendem Verfahren versuchen, mir das Leben hier zu verunmöglichen.“

Insbesondere ging Max darauf ein, dass seine Arbeit für internationale Zeitungen und Magazine ein legitimes Recht sei und keinesfalls strafbare Handlungen darstellten. In Bezug auf die während des Gewahrsams seitens der Polizei erhobene Anschuldigung, dass er Erdoğan beleidigt habe, meinte er: „Ich habe kein Interesse an persönlichen Diffamierungen, ich mache strukturelle Analysen“. Auch die Bücher und Zeitschriften, deren Besitz man ihm nun tendenziös vorhalte, seien legale Schriften zu unterschiedlichsten Themen. Insbesondere seien bei der Razzia nur Bücher mitgenommen worden, die nun den Eindruck erweckten, er beschäftige sich einzig mit bestimmten Themen; ebenso seien seine Kontakte zu spezifischen Personen – etwa den Mitangeklagten – zentral gesetzt worden, dabei habe er als kritischer Journalist und politischer Aktivist mit hunderten Menschen zu tun: „Ich bin ein Sozialist; ich habe das niemals geleugnet oder etwas Gegenteiliges behauptet. Das ist legitim. Wenn man mich schon angeklagt, dann für Dinge die ich getan habe und die illegal sind. Aber die gibt es eben nicht.“ Die Anklage enthalte nichts davon, er wisse nicht einmal wirklich, wogegen er sich verteidigen solle, so haltlos seien die Anschuldigungen. Max lehnte es ab, für die Vorwürfe verfolgt zu werden, die der Staatsanwalt laut Rechtsanwalt Murat Yılmaz schlicht aus dem Polizeibericht herauskopiert habe: „Die Indizien reichen für eines: Ein sofortiger Freispruch von uns allen.“ Für den Fall, dass das Gericht noch nicht zu einer Entscheidung kommen würde, verlangte Max zumindest die Aufhebung des Ausreiseverbots.

Der vorsitzende Richter befragte Max erneut nach seinem Interesse an der Türkei, seinen Türkischkenntnissen und weshalb er für die regelmäßig erscheinende Zeitung der sozialistischen Organisation Toplumsal Özgürlük Parti Girişimi (TÖPG, Parteiinitiative für Soziale Freiheit) als Autor tätig sei. Weitere Fragen und Bezugnahmen auf den Inhalt der Verteidigungsrede gab es nicht. Anwalt Murat Yılmaz fügte weitere Punkte an, die nur noch weiter verdeutlichten, wie substanz- und haltlos die Anschuldigungen der Anklageschrift sind: Zwölf Ordner lägen auf dem Podium und das sehe nach viel aus, „aber da ist nichts drin!“ Die Anklage bestehe aus willkürlichen Interpretationen und das sei sehr gefährlich, weil damit der Rahmen der Rechtsstaatlichkeit verlassen werde. Er wies darüber hinaus auf Widersprüchlichkeiten hinsichtlich der infragestehenden Organisation in den verschiedenen Polizeiberichten und der Anklageschrift hin und präsentierte zwei Präzedenzentscheidungen anderer Gerichte, gemäß derer Menschen, die wegen derselben Organisation angeklagt waren aus Mangel an Beweisen über die Existenz und Tätigkeiten der Organisation freigesprochen wurden. Er forderte wie sein Mandant Freispruch in allen Punkten, mindestens aber die sofortige Aufhebung der Meldeauflagen und der Reisesperre. Es bestehe keine Fluchtgefahr, die Sperre führe aber zu massiven Problemen für Max bezüglich seines Aufenthaltstitels.

Mithatcan Türetken wandte sich, wie auch Burçin Tekdemir, die ihre Verteidigung sehr kurz hielt, ebenfalls gegen die unrechtmäßige und haltlose Anklage. Die Existenz der angeblichen Terrororganisation TKP/K, deren Mitglieder alle Angeklagten sein sollen, sei laut Beschlüssen anderer Gerichte (zuletzt von 2014) nicht nachzuweisen; Mithatcan selbst sei schon einmal von der Mitgliedschaft dieser Phantom-Organisation freigesprochen worden. Er bezeichnete sich selbst als Sozialist, der offen als Gründungsmitglied der sozialistischen Initiative Toplumsal Özgürlük Parti Girişimi auftritt. Die Fortführung der Parteigründung sei durch seine Inhaftierung nun verzögert worden. Die TÖPG sei eine eigenständige und legale Partei in Gründung, die nicht von anderen Strukturen abhänge: „Die TÖPG ist die TÖPG und nichts weiter.“ Der Kapitalismus in der Türkei habe desaströse Auswirkungen auf Frauen*, Kinder und Arbeiter*innen, weshalb die TÖPG selbstverständlich das Ziel verfolge, diesen abzuschaffen und den Sozialismus zu errichten; der Weg dazu führe über eine demokratische Republik samt demokratischer Verfassung. Auf diese und weitere Ausführungen von Mithatcan Türetken ging die Gerichtskommission allerdings nicht weiter ein, sondern stellte nur noch davon unabhängige Fragen nach anderen Verfahren von Mithatcan und seiner Verbindung zu spezifischen Personen. Anwalt Teoman Özkan griff dies auf und kritisierte die Herangehensweise des Staatsanwalts, sich im Bericht diskriminierender Sprache, Verkürzungen und Bewertungen zu bedienen. Damit würde eine Schuld aller Angeklagten impliziert, obgleich der Mangel an konkreten Beweisen dies überhaupt nicht zulasse.

Nach knapp eineinhalb Stunden waren die Verteidigungsreden und anschließenden Befragungen zu Ende. Es blieb insgesamt der Eindruck zurück, dass der vorsitzende Richter, ebenso wie der Staatsanwalt, in den Rückfragen kaum Bezug auf die von den Angeklagten vorgebrachten Argumente und Gegendarstellungen zur Anklageschrift nahm. Max Zirngast hatte schon in seiner Verteidigung klar gemacht: „Es gibt keinen einzigen Beweis für eine Straftat und das trotz intensiver polizeilicher Observation und Handyüberwachung. Es gibt noch nicht einmal einen Beweis für die Existenz der zur Frage stehenden Organisation. Es sollte nicht so einfach sein, Menschen mit so schweren Anschuldigungen vor Gericht und ins Gefängnis zu bringen“. Sollte es nicht, aber die letzten Jahre zeigen, dass in der heutigen Türkei Strafjustiz systematisch missbraucht wird, um an sich legale politische Tätigkeit unter dem Vorwand von Terroranschuldigungen zu kriminalisieren.

Nach einer Besprechung innerhalb der Gerichtskommission, die kaum eine Minute dauerte, beschloss der vorsitzende Richter, den Prozess auf den 11. September zu vertagen. Zwar wurde die Meldepflicht aller Angeklagten aufgehoben, aber die Ausreisesperre bestätigt. Zusätzlich wurde dem Antrag des Staatsanwaltes nach Akteneinsicht in ein anderes Gerichtsverfahren gegen Mithatcan Türetken und die mögliche Zusammenführung der Verfahren stattgegeben.

Es ist ernüchternd, dass nach sieben Monaten Beweisaufnahme mit einer über hundert Seiten langen Anklageschrift, einer über 8000 Seiten (!) starken Beweisaufnahme und einem Verfahren, in dem sich alle Angeklagten offen zu ihren Aktivitäten äußerten, ein solches Ergebnis zustande kommt. Es wurde dem Gericht seitens des Staatsanwalts kein einziger Beweis für eine terroristische Aktivität vorgelegt, auch in den Befragungen der Angeklagten ließen sich hierfür keinerlei Hinweise finden. Wir wissen aber auch, dass dieser Prozess bezeichnend und leider symptomatisch für den Verlauf politischer Verfahren in der derzeitigen Türkei ist. Annina Mullis, eine Schweizer Anwältin, die schon viele Fälle in der Türkei begleitet hat und für diesen Tag anreiste, ist vom Prozess selbst nicht überrascht: „Die meisten dieser Verfahren laufen so ab. Einzelne Prozesstage und dazwischen monatelange Pausen – so können sich Verfahren über Jahre hinziehen. Das ist nicht nur eine Verletzung des Beschleunigungsgebots, sondern ein bewusst eingesetztes Mittel, um den Druck auf die Angeklagten und oppositionelle Strukturen als Ganzes aufrechtzuerhalten.“ Der Prozess sei deutlich als politisch motiviert anzusehen; aus strafrechtlicher Perspektive sei er nicht haltbar.

Hatice, Burçin, Mithatcan und Max sind nur vier von sehr vielen Personen, die in der Türkei Repression und Willkür ausgesetzt sind. Derzeit gibt es türkeiweit circa 260.000 Inhaftierte, 44.000 davon werden in irgendeiner Form des Terrorismus beschuldigt. Wir verlangen: Die 26. Strafkammer für schwere Straftaten muss die völlig unbegründete Anklage gegen Max Zirngast und seine Mitangeklagten umgehend fallenlassen. Die Gerichtsentscheidung von heute ist als pure Willkür anzusehen. Als Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast verlangen wir einen sofortigen Freispruch – und solange dieser nicht eintritt, zumindest die Aufhebung der Ausreisesperre für alle Angeklagten.