Der Soziologe und Globalisierungskritiker Jean Ziegler hat sich mit dem seit mittlerweile 85 Tagen andauernden Hungerstreik der kurdischen Politikerin Leyla Güven und ihren Forderungen solidarisch erklärt. Im ANF-Gespräch äußerte der Freund des lateinamerikanischen Revolutionärs Ernesto „Che“ Guevara Kritik an der Haltung der internationalen Staatengemeinschaft sowie den Vereinten Nationen (UN) zur Türkei. Die Erdoğan-Regierung sei ein faschistisches Regime, das systematisch gegen das Völkerrecht verstoße. Statt die Politik Erdoğans zu unterstützen, müsse sich Europa für die Freiheit Abdullah Öcalans einsetzen und für Bedingungen sorgen, in denen der PKK-Gründer als Vorsitzender einer legitimen Befreiungsbewegung frei leben und arbeiten kann.
„Widerstand der Hungerstreikenden bedeutsam und ehrenvoll“
Den von der DTK-Vorsitzenden und HDP-Abgeordneten Leyla Güven initiierten Hungerstreik, dem sich mittlerweile über 280 politische Gefangene in der Türkei für die Aufhebung der Isolationshaftbedingungen Abdullah Öcalans angeschlossen haben, bezeichnet er als „bedeutsam und ehrenvoll“. Die Forderungen von Leyla Güven und ihrer Freundinnen und Freunde müssten sofort akzeptiert werden, da die kritische Phase im Hungerstreik schon längst erreicht worden sei, so Ziegler. Die Aufhebung der Isolationsbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali sei jedoch nicht ausreichend. Ziegler forderte, dass der Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung freikommen muss: „Die europäische Staatengemeinschaft und ihre Institutionen und Organisationen müssen sich in Bewegung setzen, ihre Türkei-Politik, die den Erdoğan-Faschismus unterstützt, beenden und den Kurden beistehen“, sagte Ziegler.
„Türkischer Staat verübt Verbrechen an der Menschheit“
Der türkische Staat basiere auf einer faschistischen Ordnung, die ganz offensichtlich Verbrechen an der Menschheit verübt. „Die Praktiken, die der türkische Staat gegenüber dem kurdischen Volk anwendet, sind ganz klare Verletzungen des Kriegsrechts und des Menschenrechts. Die in der letzten Zeit aufgetauchten Dokumente sind nur ein weiterer Beweis dafür. Angesichts dieser Verbrechen zu schweigen, darf nicht sein“.
„UN muss Sondersitzung einberufen“
Seit dem Jahr 2000 ist Jean Ziegler für die Vereinten Nationen tätig, derzeit im beratenden Ausschuss des UN-Menschenrechtsrats. Dieser müsse unverzüglich eine Sondersitzung wegen der Lage in der Türkei einberufen, forderte Ziegler. „Erdoğan missachtet das Völkerrecht und begeht Verbrechen gegen die Kurden und oppositionelle Kreise. Doch die UNO schweigt. Es gibt gute Gründe, eine Sondersitzung zu fordern. Der türkische Staat verübt seit sehr langer Zeit systematische Verbrechen an der Menschheit. Die Folter, der Öcalan ausgesetzt wird, verstößt gegen das Menschenrecht. Auch die Opposition wird systematisch gefoltert. Die Vereinten Nationen müssen gegen den türkischen Faschismus handeln“, so Ziegler.
„Ich sage, dass Öcalan freikommen muss, weil…“
„Ich sage, dass Öcalan freikommen muss, weil er die Repräsentationsfigur eines Volkes mit einer langen und großen Zivilisationsgeschichte ist. Den Kurden als eines der ältesten Völker der Welt werden heute ihre kulturellen und politischen Rechte sowie ihre Freiheit vorenthalten. Für mich stellt dies ein Verbrechen gegen die Menschheit dar. Die Praktiken, die gegen die Kurden ausgeführt werden, verstoßen auch gegen internationales Völkerrecht. Dagegen zu protestieren und Widerstand zu leisten, muss die Pflicht eines jeden Menschen sein. Den Kurden steht ein freies Kurdistan zu, das alle vier Teile umfasst und von allen internationalen Kräften anerkennt und unterstützt wird. Efrîn, die Heimat der Kurden, wurde vom türkischen Staat besetzt. Warum schweigen die Vereinten Nationen und die internationalen Kräfte? Efrîn muss befreit und an seine rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben werden“, sagte Ziegler.
„Die PKK ist eine legitime Befreiungsbewegung“
Jean Ziegler äußerte sich auch zur Auflistung der Arbeiterpartei Kurdistans in der EU-Terrorliste. Es sei „absurd“, dass der Westen die PKK als terroristisch einstufe, diesem Unsinn müsse ein Ende gesetzt werden. „Wenn wir heute von einem Sieg über den Islamischen Staat sprechen können, verdanken wir dies ausschließlich den Kurden, aber insbesondere den kurdischen Frauen. Diesen Verdienst braucht niemand anders für sich beanspruchen. Der Widerstand der Kurden, ihr Leben, das sie der Freiheit widmeten und ihr Glaube haben das Ende des IS herbeigeführt. Abgesehen davon ist die PKK eine Freiheitsbewegung. Sie führt einen Befreiungskampf für ein ignoriertes Volk mit langer Zivilisationsgeschichte. Ich habe bereits in der Vergangenheit gesagt, dass die PKK eine legitime Bewegung ist, deren Vorsitzender Abdullah Öcalan ist. Deshalb muss er freikommen. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, unter denen Öcalan ohne Hindernisse Politik machen kann. Der Westen muss sich von einer Politik, die Erdoğan zugutekommt, abwenden und eine vermittelnde Rolle zwischen der PKK und der türkischen Regierung einnehmen, damit Friedensgespräche aufgenommen werden“, so Ziegler.
Wer ist Jean Ziegler?
Jean Ziegler, geboren 1934 im schweizerischen Thun, lehrte bis zu seiner 2002 erfolgten Emeritierung Soziologie an der Universität Genf und als ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris. Er war von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Mitglied im Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats und im Beirat von „Business Crime Control“.
Jean Ziegler wurde in jungen Jahren geprägt von seiner Freundschaft zu Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir sowie durch einen zweijährigen Afrika-Aufenthalt als UN-Experte nach der Ermordung Patrice Lumumbas („Ich habe mir geschworen, nie wieder, auch nicht zufällig, auf der Seite der Henker zu stehen.“). Bis 1999 war Jean Ziegler Nationalrat im Parlament der Schweizer Eidgenossenschaft. Seine Publikationen wie „Die Schweiz wäscht weißer“ und „Die Schweiz, das Gold und die Toten“ haben erbitterte Kontroversen ausgelöst und ihm internationales Ansehen. Zuletzt erschien der Weltbesteller „Das Imperium der Schande“. Ziegler gehört zu den international profiliertesten und charismatischsten Kritikern weltweiter Profitgier und ist derzeit Mitglied des UN-Menschenrechtsrates.