„Es ist eine Frage der Menschlichkeit – Gebt niemals auf!"
Intellektuelle und Akademiker melden sich zu Wort und verurteilen den türkischen Angriffskrieg und zeigen Solidarität mit Rojava und Nordostsyrien.
Intellektuelle und Akademiker melden sich zu Wort und verurteilen den türkischen Angriffskrieg und zeigen Solidarität mit Rojava und Nordostsyrien.
Während der türkische Angriffskrieg gegenüber Rojava und Nordostysrien andauert, gibt es weltweit Proteste dagegen. Intellektuelle und Akademiker*innen melden sich zu Wort, um diesen Krieg zu verurteilen und Solidarität mit Rojava und Nordostsyrien zu zeigen. Im Folgenden veröffentlichen wir Statements von Prof. Noam Chomsky, Prof. Federica Giardini, Dr. Dario Azzellini, Dr. Joost Jongerden, Prof. Kariane Westrheim und Prof. Ueli Mäder, die ihr Solidarität geäußert haben.
Prof. Noam Chomsky, USA, Linguist, Philosoph und Historiker:
„Es ist schwer zu beschreiben, wie absurd dies alles ist. Mit seiner erbärmlichen Kapitulation gegenüber Erdoğan hat Trump seinen Namen auf die Liste der Schande amerikanischer Präsidenten gesetzt, die die Kurden in den letzten 45 Jahren niederträchtig und bösartig verraten haben. Seine Entscheidung, Rojava der Gnade Erdoğans und Assads zu überlassen, ist besonders beschämend in Anbetracht der Tatsache, dass die kurdischen Milizen es waren, die unter dem Verlust tausender Opfer den Islamischen Staat mit Unterstützung der USA besiegten. Dies alles geschieht nach verbindlichen Versprechen der USA, sie vor einem türkischen Expansionsangriff zu beschützen. Dieses Verbrechen wird nur von der Tatsache übertroffen, dass Trumps Verrat die Errungenschaften der Kurden in Rojava massiv in Gefahr bringt, eine wirkliche Inspiration, die aus eben diesem Grund eine Gefahr für die Autokratie und konzentrierte Macht darstellt. Es muss alles getan werden, um diese Abscheulichkeiten zu beenden und die Opfer zu beschützen.“
Prof. Federica Giardini, Dipartimento di Filosofia, Comunicazione, Spettacolo, Università Roma Tre, Italien:
„Die Verteidigung Rojavas bedeutet die Verteidigung derer, die jeden Tag im Mittleren Osten wie in jedem anderen Teil der Welt Widerstand gegen die fortschreitenden Grausamkeiten leisten. Für Millionen von Aktivist*innen, Denker*innen und Akademiker*innen ist die kurdische politische Kultur der Vorreiter bezüglich einer Vision und dem Aufbau einer alternativen Gesellschaft, die auf nichtstaatlicher Autonomie, Selbstbestimmung, direkter Demokratie und dem Kampf gegen das Patriarchat basiert, wo Interkulturalität, gerechte Geschlechterverhältnisse und Respekt vor dem Planeten im täglichen Leben weiterentwickelt werden. Der gewalttätige und empörende Angriff auf das kurdische Volk ist ein Angriff auf unsere gemeinsame Hoffnung bezüglich einer alternativen Lebensweise; überall auf der Welt sind die Empörung und die Solidarität symbolisch für unsere Entschlossenheit, diese Werte zu verwirklichen."
Dr. Dario Azzellini, Soziologe und Politikwissenschaftler, USA:
„Es geht um die Menschlichkeit und um die Menschheit. Seit dem 9. Oktober führt die Türkei, die zweigrößte Armee der NATO, gemeinsam mit islamistischen Milizen von al-Qaida und dem Islamischen Staat einen Angriffskrieg gegen Rojava. Das Ziel ist die Einverleibung des Territoriums. Genozid und Vertreibung der vorwiegend kurdischen, aber auch assyrischen, christlichen, ezidischen und arabischen Bevölkerung sind das Ziel. Die von kurdischen Kämpfern und Kämpferinnen angeführte multiethnische QSD besiegten den Islamischen Staat nahezu vollständig und hatten dabei über 11.000 Tote zu beklagen. In Rojava wurde das einzige multiethnische und multireligiöse Modell des Zusammenlebens in der ganzen Region aufgebaut. Basisdemokratie und Gleichberechtigung für Frauen prägen die Selbstverwaltung. Die Türkei und ihre Verbündeten stehen für Krieg, Vertreibung, Genozid, Intoleranz, Rassismus und Autoritarismus. Nun will Erdoğan das Rad der Geschichte zurückdrehen. Die Türkei macht keinen Hehl daraus, dass es vom alten Osmanischen Reich träumt. In Rojava entscheidet sich die Zukunft einer gesamten Region. Sollte die Türkei in Rojava mit ihrem Vorhaben durchkommen, wird sie nicht dort halt machen. In Rojava und überall in der Welt gilt es, sich diesem Krieg entgegenzustellen. Es geht um die Menschlichkeit und um die der Menschheit.”
Dr. Joost Jongerden, Soziologe, Wageningen Universität, Niederlande:
„Während Trump stets einen Abzug aus Syrien befürwortete, hat die türkische Mehrheitsmeinung und politische Führung nie eine kurdisch-territoriale Selbstverwaltung an ihrer syrischen Grenze akzeptiert, die Türkei nahm diese stets als externe Gefahr wahr und diffamierte sie unter den Topoi des ‚Terrorismus‘. So reiht sich die militärische Intervention in ein Muster türkischer Militärangriffe ein. Im Rückblick auf die letzten vier Jahre sehen wir wiederholte Kriegstreiberei, um einen ‚starken‘ Staat und eine Regionalmacht zu konstituieren. Kurz gesagt: die grundsätzliche Zielsetzung der letzten Jahre war es, Macht zu konzentrieren und einen starken Staat zu konstruieren. Die AKP mit ihrem Vorsitzenden Erdoğan hat einen Sicherheitsdiskurs generiert, in dem die Kurden erneut als das ‚das Andere‘ und so als externe Gefahr entworfen werden, was letztendlich zu einer Militarisierung der Politik führte. Durch Krieg versucht die Türkei ihre eigene Version eines starken Nationalstaates zu kreieren mit dem Ausüben von Regionalmacht. Wie lange dies noch halten wird, ob Erdoğan seine Macht erhalten kann und wie sich die Dinge weiterentwickeln, werden – auch im Hinblick auf andere Situationen (wie das Wiedererstarken des Islamischen Staates) – sich zeigen. Klar ist hingegen, dass Erdoğans Konstruktion eines starken Staates und ebenso das Konstrukt seiner persönlichen Macht sich im Krieg gegen die Kurden zu verwirklichen versuchen.“
Prof. Kariane Westrheim, Professorin der Universität Bergen, Norwegen, Vorsitzende der EU-Türkei-Bürgerkommission (EUTCC):
„Seit dem Tag der türkischen Invasion in Nordostsyrien (Rojava) hoffe ich, dass etwas wunderbares geschehen wird, zum Beispiel dass Trump beschließt, seine Unterstützung für die Kurd*innen und die YPG/YPJ fortzusetzen sowie Putin seine Haltung bezüglich der Unterstützung Erdoğans ändert, so dass beide Seiten zutiefst bedauern, dass sie den Kurd*innen auf demütigster und schmutzigster Weise in den Rücken gefallen sind. Aber ich weiß, dass dies nur ein Traum ist. Die Realität ist, dass die Kurd*innen, die in den letzten 14 Tagen auf der Titelseite aller großen internationalen Medien zu sehen waren, derzeit mit einem Völkermord konfrontiert sind. Gleichzeitig hat diese Tatsache Menschen auf der ganzen Welt ermutigt, gegen die feige und grausame Ungerechtigkeit der USA zu protestieren und zu demonstrieren. Die Kurd*innen sind sich des Scheiterns der westlichen Staaten, der UNO und der NATO durchaus bewusst, wenn sie mit den militärischen Gruppen der Türkei konfrontiert werden, die aus Dschihadisten, der Al-Nusra-Front und aus anderen ausländischen Kämpfern besteht. Die Bedrohung ist nicht nur die Annullierung, sondern auch die Zerstörung des demokratischen Gesellschaftsmodells, das die Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft an die Spitze gebracht hat.
In diesem Moment kämpfen die Kurd*innenn in der Führung der YPG und YPJ für alles, was sie erreicht haben und was sie lieben. All dies und wegen des historischen Kampfes der Kurd*innen, ihrer Stärke und ihrer eindeutigen Bereitschaft, sich zu erheben und das zu tun, was sie sich vorgenommen haben, lässt es mich daran glauben, dass sie ihren Widerstand leisten werden, und damit auf die eine oder andere Weise Erfolg haben.
Zu eurem und um unseretwillen bitte ich euch: Gebt niemals auf! Wir, eure Freundinnen und Freunde im Ausland, werden alles tun, um euch mit allen Mitteln und auf allen uns zur Verfügung stehenden diplomatischen Wegen zu unterstützen. Wir stehen den Gräueltaten nicht wie ihr gegenüber, aber ihr solltet wissen, dass wir in Solidarität mit euch sowie im Denken und Handeln bei euch sind und euch unsere aufrichtige Liebe und moralische Unterstützung senden.“
Prof. Ueli Mäder, Soziologe, emeritierter Professor an der Universität Basel, Schweiz:
„Protest gegen die türkische Militäroffensive, ich protestiere gegen die türkische Militäroffensive im Norden von Syrien und gegen das Vertreiben der ansässigen Bevölkerung. Mehrere hunderttausend Menschen sind auf der Flucht. Unter ihnen befinden sich wiederum Zehntausende von Kurdinnen und Kurden. Mich erschreckt auch, wie die USA und Russland die türkische Invasion stützen und das Völkerrecht ebenfalls verletzen. Umso wichtiger wäre eine klare Haltung der Europäischen Union (EU). Aber die Reaktionen sind verhalten und zögerlich. Zumal die Türkei wirtschaftlich eng mit der EU verbunden ist. Das NATO-Mitglied dient überdies mit diversen Militärbasen als geopolitisches Tor zum Nahen und Mittleren Osten. Das zeigte sich schon bei früheren Kriegen in Afghanistan, im Golf und bei Angriffen auf Syrien.
Zwischen 2005 und 2015 verdiente auch die Schweizer Waffenindustrie 28,6 Millionen Franken mit türkischen Aufträgen, die sie inzwischen verlagert hat. Einige Millionen Franken erhielten Länder, die im Nahen Osten in Bürgerkriege verwickelt sind. Mit der Türkei laufen allerdings weitere Handelsabkommen, obwohl sich Verletzungen der Menschenrechte häufen.
Erfreulich sind immerhin die vielen Menschen, die derzeit in Schweizer Städten gegen die türkische Militäroffensive demonstrieren. Sie engagieren sich dafür, die Menschenrechte zu achten. Das muss wichtiger sein als wirtschaftliche Interessen.”