In einem schriftlich über seine Anwält*innen geführten Interview hat sich der im Gefängnis von Edirne inhaftierte Präsidentschaftskandidat der HDP, Selahattin Demirtaş, zu Fragen der Nachrichtenagentur MA geäußert. Demirtaş kritisiert dabei die Distanz der Republikanischen Volkspartei CHP zur HDP und den Demokratiekräften des Landes. Die CHP sei „entpolitisiert und kurzsichtig“. „Es ist nicht notwendig, anderweitig nach einer Alternative zu suchen. Die Alternative sind wir“. Die HDP habe das Potenzial, über 20 Prozent der Stimmen zu erhalten. Nach dem 24. Juni werde man „über das tragische Ende des Begehrens nach einer Diktatur und den Sieg der demokratischen Kräfte sprechen“.

Wir möchten näher auf die Haltung der CHP eingehen. Bei den letzten Wahlen hat sie sich voll und ganz politisch rechts orientiert und einen offenen Dialog mit den Demokratiekräften gemieden. Wie bewerten Sie diese Situation?

Die CHP wurde nie zu einer echten Hoffnung oder Alternative. Mit einer Politik, die sich nicht sich selbst stellt und nicht in Konfrontation mit der Realität geht, kann nichts erreicht werden. Dass sie sich von der HDP und den Demokratiekräften distanziert, zeugt von ihrer entpolitisierten und kurzsichtigen Haltung. Ihre Versuche, sich politisch im rechten Lager Abhilfe zu verschaffen, ist ein konkretes Zeichen dafür, dass ihr Kompass die falsche Richtung anzeigt. Ich hoffe, dass sie sich zumindest in der zweiten Runde nicht weigern, uns zu unterstützen.

Sind die Völker der Türkei auf eine rechte Politik aus den Reihen der AKP angewiesen? Welche Alternativen gibt es? Denken Sie, dass es möglich ist, Alternativen zu erreichen?

Die Alternative sind wir, es ist die HDP. Es ist nicht notwendig, anderweitig nach einer Alternative zu suchen. Die gemeinsame demokratische Linie aller Unterdrückten hat sich bereits unter dem Dach der HDP vereint und die Alternative geschaffen. Die HDP hat heute mehr Möglichkeiten denn je, in den Vordergrund zu treten. Sie ist zu einer politischen Linie gereift, die zur Hoffnung aller Völker geworden ist.

Öztürk Yılmaz, der stellvertretende Vorsitzende der CHP und Beauftragter für Außenbeziehungen hat Sie besucht. Ein eher überraschender Name, wenn man bedenkt, dass es sich um jemanden handelt, der die gesetzliche Regelung abgesegnet hat, die den Weg für ihre Verhaftung geebnet hat. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden Sie über den Inhalt des Treffens sprechen? Welche Themen wurden erörtert?

Alle Besuche, die mir bis heute abgestattet wurden, fanden im Rahmen von Höflichkeit und Solidarität im Wissen der HDP-Hauptzentrale statt. Natürlich wurde bei diesen Treffen auch die politische Tagesordnung diskutiert, aber ich habe hier zu keinem Zeitpunkt Gespräche im Namen meiner Partei geführt. So etwas kann unter diesen Umständen gar nicht passieren. In dieser Angelegenheit ist die HDP-Hauptzentrale die richtige Ansprechpartnerin. Was die Parteipolitik betrifft, handeln wir in Abstimmung mit dem Parteivorstand. Der Besuch der CHP-Abgeordneten jedoch war durch und durch auf Solidarität ausgerichtet. Solche Besuche haben natürlich politische Auswirkungen, was allerdings nicht beabsichtigt wird.

Jeder ist sich der repressiven Politik, der die HDP ausgesetzt wird, bewusst. Was glauben Sie, wie hoch der Stimmenanteil für Ihre Partei ausfallen wird?

Sie sollten berücksichtigen, dass Erdoğan auf einer Parteiversammlung in Bezug auf die HDP sagte: „Begrabt sie in der Wahlurne“. Diese Ansage galt nicht den Wahlberechtigten, sondern den Staatskräften. Mit anderen Worten: „Lasst sie nicht aktiv arbeiten und verhindert, dass Stimmen für die HDP in den Urnen landen“. Die HDP ist eine kraftvolle Volksbewegung, die trotz Repression und allen Arten von Hindernissen den Faschismus an der Urne bezwingen wird.

Es dauert nicht mehr lange. Am 24. Juni wird die HDP zeigen, dass sie das Potenzial hat, weit über 20 Prozent zu kommen.

Über was wird die Türkei in Bezug auf die Zeit vor den Wahlen und danach sprechen?

Wir werden über das tragische Ende des Begehrens nach einer Diktatur und den Sieg der demokratischen Kräfte sprechen.

Hat jemand aus den Reihen der AKP oder dem rechten Lager den Kontakt zu Ihnen während Ihrer Zeit in Haft gesucht? Wenn ja, gab es Anzeichen von Reue oder Bedauern?

Ich hatte weder direkten noch indirekten Kontakt mit jemandem von der AKP. Einmal wurde Enis Berberoğlu von Mitgliedern der parlamentarischen Gefängniskommission besucht. Ich habe ihnen eine Nachricht zukommen lassen und klargestellt, dass sie bloß nicht auf die Idee kommen sollen, auch uns zu besuchen. Wir würden dies unter keinen Umständen akzeptieren. Wenn sie unbedingt etwas tun wollten, sollten sie die Foltervorwürfe in den Gefängnissen von Tarsus und Elazığ untersuchen. Dort sind sie aber eh nicht hingegangen.

Haben Sie eine Botschaft an die Wähler*innen, die die Ergebnisse der Wahlen vom 7. Juni 2015 erzielt haben?

Ich lade alle jungen Menschen und Frauen, die mit großem Einsatz, Selbstlosigkeit und Mut die Erfolge der Wahlen vom 7. Juni und 1. November erzielt haben, dazu ein, sich ein weiteres Mal mit Leib und Seele in die Arbeiten einzubringen. Sie sollen alle und jeden überzeugen, einschließlich ihrer ehemaligen Lebensabschnittsgefährt*innen :) 

In der Türkei herrscht unter der Devise „Vaterland und Nation“ die Suche nach einem Bündnis. Wie läuft dieser Prozess aus Sicht der HDP ab und gibt es einen Kontakt zwischen den kurdischen Parteien? Was für eine Strategie wird oder sollte die HDP in dieser Phase verfolgen?

Die HDP-Hauptzentrale wirkt in diesem Zusammenhang ohnehin schon mit einer breiten Bündnisperspektive am demokratischsten. Ich kann meiner Partei Vorschläge machen und meine Unterstützung anbieten, aber diesbezügliche Aussagen der HDP sind für uns alle verbindlich. Ich denke, dass wir umfassend Auskunft erhalten werden, wenn alle Gespräche abgeschlossen sind.

Hayri Demir | MA