Celle: Veranstaltung zur Selbstverwaltung in Şengal

In der Celler Veranstaltungsreihe „Internationale Stimmen – Gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg” referierten am Mittwoch Teilnehmende einer feministischen Delegation über die Selbstverwaltung im ezidischen Kerngebiet Şengal.

Im niedersächsischen Celle hat am Mittwoch im Bunten Haus eine Veranstaltung zur Selbstverwaltung in der ezidischen Şengal-Region stattgefunden. Es war die vierte der Veranstaltungsreihe „Internationale Stimmen – gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg“ des Arbeitskreises Internationalismus. Als Referentinnen waren Aktivistinnen der feministischen Organisierung „Gemeinsam kämpfen! Für Selbstbestimmung und demokratische Autonomie“ und des Dachverbands des ezidischen Frauenrates e.V. (SMJÊ) zu Gast. Sie waren im April diesen Jahres als Teil einer feministischen Delegation nach Şengal gereist und berichteten von ihren Eindrücken.

Zu Beginn der Veranstaltung rahmte Cîcek Yildiz von SMJÊ die Situation und die Geschichte der Ezîd:innen in den verschiedenen Teilen Kurdistans. Als Begründung für das Entstehen der Delegation stellte sie heraus, dass insbesondere regionale politische Kräfte nach wie vor den Plan verfolgten, Şengal zu entvölkern. Ein signifikantes Beispiel hierfür nannte sie das sogenannte Şengal-Abkommen vom 9. Oktober 2020, welches zum Ziel habe, die Selbstverwaltung zu delegitimieren. In diesem Bezug sei es umso wichtiger, die Selbstverwaltung in der ganzen Welt sichtbar zu machen und hierzu auch eine Brücke aus Deutschland zu schlagen.

Mutige, selbstbewusste Vordenkerinnen von Selbstbestimmung und Wiederaufbau

Nina von „Gemeinsam Kämpfen“ ergänzte die Motivation der Delegation um den Aspekt, die Stimmen der Menschen und besonders der Frauen Şengals sichtbar zu machen: Ezîdische Frauen würden in Deutschland noch immer vorwiegend als Opfer des selbsternannten IS betrachtet – dabei seien sie auch mutige, selbstbewusste Vordenkerinnen von Selbstbestimmung und Wiederaufbau. Den Aufbau vor Ort zu sehen und die Frauen kennen zu lernen, zeige viel mehr Identität als die des Opfers. Der Mut, die Kraft und das Selbstvertrauen der Ezidinnen sei überdies in zahlreich geführten Interviews auf beeindruckende Weise sichtbar geworden und werde demnächst in Form einer Broschüre einer breiten Öffentlichkeit zugängig gemacht.

Gegen Entrechtung und Fremdbestimmung

Auf die Frage nach dem aktuellen Stand des Aufbaus der Selbstverwaltungsstrukturen benannten die Referentinnen als einen der Höhepunkte den 5. Kongress des Demokratischen Autonomierats Şengals, der in die Zeit der Delegation fiel. Bereits 2014 wurde mit dem Aufbau begonnen. Seitdem arbeite die Bevölkerung kontinuierlich und unter großem Einsatz an der Verwirklichung der Selbstverwaltung. Über Jahrhunderte sei das ezidische Volk entrechtet worden, man habe den Menschen die eigene Denk- und Organisationsfähigkeit verweigert. Politik und Schutz sollten sie anderen überlassen. Das Beispiel in Rojava sowie die Philosophie der Freiheitsbewegung Kurdistans habe in diesem Punkt zu einem großen Bewusstsein geführt: Eine Fremdbestimmung möchten sie unter keinen Umständen weiter akzeptieren. Der irakische Staat erkenne, obwohl die Verfassung dies zulässt, die Selbstbestimmung der Şengal-Region bislang nicht an. Trotzdem funktioniere diese und habe in den wenigen Jahren seit ihrem Beginn bereits alle Bereiche des Lebens umfasst.

Auf dem Kongress seien die Erfolge und Misserfolge der vergangenen Arbeiten aus allen Feldern vorgestellt worden: Medizin, Ökonomie, Infrastruktur, Selbstverteidigung, Diplomatie, Bildung, Kunst und Kultur, Presse, Rätestrukturen, Aufarbeitung des Genozid-Feminizids, Recht und Gerechtigkeit, Glaube sowie die eigenständigen Arbeiten der Jugend und der Frauen. Von jung bis alt kamen mehrere hundert Menschen unterschiedlicher Ethnien und Glaubensrichtungen aus dem Şengal zusammen, verabschiedeten einen neuen Gesellschaftsvertrag, wählten die mehr als hundert Mitglieder der Volksversammlung, die sich aus Vertreter:innen von Dorfräten, Institutionen und Organisationen zusammensetzt, analysierten und bewerteten die vergangene Zeit, erarbeiteten ihre künftige Planung und wählten eine neue genderparitätische Doppelspitze für die nächsten zwei Jahre.

Internationale Anerkennung der Selbstverwaltungsstrukturen

Als eindrückliche Impressionen benannten die Referentinnen, dass in den Interviews, die die Delegation mit den Frauen aus verschiedenen Bereichen machte, viele Bezüge untereinander hervorgehoben wurden. Die Einrichtung eines Kindergartens etwa ermögliche es Frauen, sich in den eigenen Einrichtungen zu bilden oder arbeiten zu gehen. Um die ökonomische Unabhängigkeit zu fördern und eigene Perspektiven zu entwickeln, gäbe es mehrere Frauen-Kooperativen, wie Cafeterien, Bäckereien und Nähereien.

Auch die starken Bezüge zu den Gefallenen seien immer wieder eingeflossen. So berichtete eine junge Frau, die momentan eine Ausbildung beim Journalistinnenverband RAJIN (Ragihandina Azad a Jinan) macht, dass sich ihre männlichen Familienangehörigen zunächst dagegen sträubten, dass sie sich einbringe. Ihre Mutter habe sie stets unterstützt, doch erst ein Freund ihres Bruders schaffte es schließlich, die Männer zu überzeugen. Dieser Freund war Pîr Çeko, ein Kommandant der Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ), der gemeinsam mit seinem Kollegen Agir Cefrî im vergangenen Februar bei einem türkischen Drohnenangriff getötet wurde.

Zum Ende der Veranstaltung wiesen die Delegationsteilnehmerinnen auf die Perspektiven der Menschen aus Şengal hin. Dabei sei das Wichtigste, dass deren Stimme verstärkt und gehört werden solle. Zwar sei die Anerkennung des Genozids durch den deutschen Bundestag ein wichtiger Schritt, aber es brauche auf politischer und diplomatischer Ebene auch die Anerkennung der Selbstverwaltungsstrukturen der Region. Konkret brauche es aber auch eine Flugverbotszone, um die Luftangriffe und gezielten Tötungen durch den türkischen Staat zu verhindern.

Arbeitskreis Internationalismus

Der Arbeitskreis Internationalismus baut mit seiner Arbeit Verbindungen zwischen verschiedenen Menschen und Bewegungen auf und stärkt das solidarische Miteinander. Dazu gehört, nach den Geschichten der Menschen in Celle zu fragen und in einen Austausch darüber zu kommen, was diese bewegt. In Zukunft sind weitere Veranstaltungen geplant.