Özsoy: Ein Angriff auf Rojava hätte einen Bumerangeffekt

Der außenpolitische Sprecher der HDP, Hişyar Özsoy, nimmt Bezug auf die Angriffe der Türkei in Kobanê und Girê Spî und erklärt, dass eine neue Besatzungsoperation in Nordsyrien die Türkei selbst treffen würde.

Der außenpolitische Sprecher und stellvertretende Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP) Hişyar Özsoy bewertet gegenüber unserer Nachrichtenagentur ANF die Angriffe des türkischen Staates auf Kobanê und Girê Spî. Özsoy wertete die Angriffe der Türkei als Versuch, den Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat zu sabotieren.

Der HDP-Sprecher macht deutlich, dass die Angriffe der Türkei auf Kobanê, also der ersten Hochburg des erfolgreichen Widerstandes gegen den IS, nicht zu akzeptieren sei. Dort habe der IS seine erste ernstzunehmende Niederlage erlitten. Kobanê und Girê Spî seien Orte, in denen durch einen großen Kampf Hoffnung in der Welt verbreitet wurde. Gerade Kobanê trägt, so Özsoy, die Rolle eines Wendepunkts in der Geschichte des Mittleren Ostens.

Der türkische Staat begreife allerdings besonders die Legitimität, die der politische Kampf der Kurd*innen in der Welt genieße, als große Gefahr für die eigenen Interessen. Deswegen habe der türkische Staat in einer Versammlung des Nationalen Sicherheitsrates sowohl innerhalb als auch außerhalb der türkischen Grenzen ein großangelegtes Angriffskonzept gegen die kurdische Bevölkerung in die Wege geleitet.

„Erdoğan, der die Wirkung des Kampfes von Kobanê genau kennt, hatte erklärt, dass er eine neue ‚Kobanê-Krise‘ nicht zulassen werde. Seit Tätigung dieser Aussage greift er ununterbrochen an", erklärt Özsoy.

Der Vierergipfel hat die Türkei in ihrem Vorhaben bestärkt

Özsoy macht darauf aufmerksam, dass die Angriffe auf Nordsyrien unmittelbar auf den Vierergipfel Erdoğans mit Putin, Merkel und Macron folgten. „Es liegt auf der Hand, dass dieser Gipfel die Türkei in ihrem Vorhaben bestärkt hat", betont Özsoy. Deutschland habe eher aufgrund des Interesses am Flüchtlingsdeal am Vierergipfel teilgenommen. Frankreich hingegen wolle ähnlich wie die USA dem Assad-Regime und Russland deutlich machen, das es beim Ausgang des Bürgerkriegs in Syrien ein Mitspracherecht habe.

Der Westen wolle eine vollständige Niederlage gegenüber Russland und Assad nicht hinnehmen, erklärt der HDP-Sprecher Özsoy und ergänzt: „Dieser Fall würde nämlich eintreten, wenn Assad und Russland Idlib und die anderen umkämpften Orte in Syrien einnehmen. Besonders die Einnahme von Idlib könnte das Ende des Krieges markieren. Deswegen wollen vor allem Frankreich und die USA nicht, dass Idlib unter die Kontrolle des Regimes gerät. Während für Deutschland der Flüchtlingsdeal eine äußerst wichtige Angelegenheit darstellt, wollen Frankreich und die USA nicht, dass Assad, Russland und der Iran Syrien westlich des Euphrats vollständig unter ihre Kontrolle bringen. Idlib ist hierfür der Schlüssel."

Özsoy macht darauf aufmerksam, dass die Türkei bei der Idlib-Angelegenheit nichts zu gewinnen habe, solange die USA oder Frankreich nicht aktiv eingreifen. „Tatsächlich ist das Thema zwischen den USA und Russland noch nicht geklärt. Im Juni hatte Trump in Helsinki Russland dazu aufgefordert, den Iran aus diesen Gebieten Syriens herauszudrängen. Russlands Antwort darauf war freundlich, aber bestimmt: ‚Wir verstehen eure Sorgen. Aber in dieser Sache können wir nichts machen.‘ Das zeigt, dass die Verhandlungen über den Westen Syriens noch nicht beendet sind. Die Türkei, deren Syrien- und Rojava-Politik ohnehin gegen die Wand gefahren ist, hat auch bei diesem Thema, entgegen ihrer eigenen Aussagen, keinen großen Einfluss. Weil es zwischen den Großmächten noch keinen Deal gibt, soll letztlich auch der Kriegszustand noch nicht beendet werden", so Özsoy.

Angriffe auf Rojava sollen Anti-IS-Kampf sabotieren

Der Aussage, dass die Angriffe der Türkei auf Rojava die Lebensdauer des IS verlängern sollen, stimmt Özsoy zu. Immer wenn die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) entschieden gegen den IS vorgehen, schalte sich die Türkei ein und greife Rojava an. So seien auch die jüngsten Angriffe der Türkei auf Kobanê und Girê Spî zu werten, die eine Sabotage des Anti-IS-Kampfes darstellen.

Özsoy weist darauf hin, dass der türkische Staat mit seinen vereinzelten Angriffen auf Rojava die Reaktionen der Öffentlichkeit bemessen wolle. Sollten die Proteste der internationalen Öffentlichkeit nicht laut genug sein, könnten sich die Angriffe schon bald in neue Besatzungsoperationen wandeln. Aus Washington seien beispielsweise kaum Reaktionen auf die türkischen Angriffe zu vernehmen.

Türkei will syrische Rebellen gegen Rojava mobilisieren

Die Syrienpolitik von Erdoğan sei anfangs darauf ausgerichtet gewesen, einen Sturz Assads herbeizuführen und einen möglichen Statusgewinn der Kurd*innen zu verhindern. Da ersteres Ziel mittlerweile deutlich gescheitert sei, konzentriere sich Ankara vollständig auf das zweite Ziel. Deswegen ziele die Türkei derzeit darauf ab, die Rebellengruppen, die zuvor gegen das Regime kämpften, an einem Ort zu sammeln und von dort aus für den Kampf gegen Rojava zu mobilisieren.

Doch letztlich befinde sich Erdoğan mit dieser Politik in einem Sumpf, aus dem er nicht mehr herauskomme, so Özsoy, der wie folgt abschließt: „Die Türkei weiß nicht, wie sie mit den Kurden im Mittleren Osten umgehen soll. Deswegen setzt sie ausschließlich auf Angriffe und Krieg. Doch damit lässt sich kein Problem lösen. Im Gegenteil, die wirtschaftliche und politische Rechnung für Ankara wird nur länger und länger. Nun versucht die Türkei, wie im Fall von Efrîn Russland auf ihre Seite zu ziehen und auch die USA auf irgendeine Weise zu überzeugen, um neue Besatzungsoperationen durchzuführen. Dass dies passieren könnte, ist nicht auszuschließen. Doch mit der großen kurdischen Bevölkerungszahl innerhalb der türkischen Staatsgrenzen würde ein weiterer Angriff auf Rojava letztlich nur zu einem Bumerangeffekt führen und die Türkei selbst empfindlich treffen."