Am 28. Februar 2015 wurde die Dolmabahçe-Erklärung, Abdullah Öcalans Zehn-Punkte-Plan für die Lösung der kurdischen Frage, verlesen. Als Vertreter*innen der kurdischen Seite nahmen damals Sırrı Süreyya Önder, Pervin Buldan und İdris Baluken an dem Treffen im Dolmabahçe-Palast, dem Amt des Premierministers, teil. Doch nur drei Tage später beendete Recep Tayyip Erdoğan den Friedensprozess und lehnte die Erklärung mit den Worten „Solch einen Plan hat es nicht gegeben“ ab.
Die Türkei durchlebt seit drei Jahren einen anderen Prozess: Friedensfordernde Menschen werden willkürlich festgenommen und landen im Gefängnis. Am dritten Jahrestag der Dolmabahçe-Erklärung sprechen wir mit dem HDP-Abgeordneten und Sprecher der Imrali-Delegation Sırrı Süreyya Önder zur damaligen und heutigen Lage im Land.
Drei Jahre sind mittlerweile vergangen, seit die Dolmabahçe-Erklärung verlesen wurde. Leider konnten die Punkte des Plans nicht in die Tat umgesetzt werden. In der Zwischenzeit hat das Land schwer gelitten und große Katastrophen erleiden müssen. Bevor wir dazu kommen, können Sie uns vom Tag des Dolmabahçe-Treffens erzählen?
Der Prozess bis dorthin war eigentlich mindestens genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger als der besagte Tag selbst. Stellen Sie sich vor, das Prinzip der „Verhandlung“ wurde zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes als Methode der Konfliktlösung aufgegriffen.
Im Zusammenhang mit der Hauptmotivation für den Friedensprozess fielen meist die Worte „konfliktfreie Zeit“, um das Blutvergießen zu verhindern, insbesondere im Jargon des Staatsapparates. Das allein war schon ein Schock für viele verschiedene Fraktionen, die mit den historischen Reflexen der Republik vertraut sind. Nichtsdestotrotz reflektiert die Tatsache, dass der Friedensprozess inhaltlich und von seiner Form her auf einen „konfliktfreien Prozess“ reduziert wurde, als technisch/diplomatische Debatte, die Herangehensweise intensiver diskutiert als die Intention dahinter, in vielerlei Hinsicht die Absichten und den Willen der Regierung wider. Mit anderen Worten, die politischen, historischen und philosophischen Aspekte sollten nachdrücklich ignoriert werden. In diesem Zusammenhang spielte Herr Öcalan als Schlüsselfigur für eine Reform der vorherrschenden Anschauung des Staates eine wesentliche Rolle. Öcalan beharrte auf der Dolmabahçe-Erklärung, weil er sich bewusst darüber war, dass ein mit Fehlern behafteter und unfertiger Weg, den man in der Vergangenheit bereits angegangen war, keinen Frieden und keine Demokratie bringen würden. Mit dem Zehn-Punkte-Plan versuchte er, den Staat auf einen seriösen Kurs zu lenken und die Spekulationen zu beenden. In der Tat stand die Regierung vor einer Sackgasse. Mit leeren Worten war das Ruder nicht mehr zu reißen. Zu solch einer Zeit wurde die Dolmabahçe-Erklärung verlesen. Anstatt mit Ernsthaftigkeit und dem Mut zum Frieden an die Sache heranzugehen hat der Staats-/Regierungsapparat vorgezogen, sich respektlos zu verhalten und Krieg auf die Tagesordnung zu setzen.
Hatte Herr Öcalan Vorstellungen darüber, was durch die Beendung des Friedensprozesses und danach geschehen könnte? Gab es Ideen, die von der Presse nicht aufgegriffen wurden, aber heute von Bedeutung sein könnten? Wie hat er damals die Situation für heute eingeschätzt?
Öcalan hat ausführlich beschrieben was passieren kann, wenn die notwendigen Schritte in dem Prozess von Regierung und Staat nicht unternommen werden. Um es kurz zusammenzufassen: All das, was seitdem im Land und in der Region passiert ist, wurde damals von Herrn Öcalan detailliert geschildert. Alles, was er vorhergesehen hat, ist eingetreten oder findet derzeit noch statt.
Die AKP-Delegation auf dem berühmten Bild des Treffens in Dolmabahçe wurde aus dem Kreis der Politik verdrängt, zumindest der sichtbare Teil. Ihre HDP-Delegation hatte auch kein besonderes Glück …
Auf dem Bild ist eine Person nicht zu sehen und das ist Herr Öcalan, der Architekt des Friedens und eigentliche Macher des Bildes. Solange Öcalan nicht auf diesem Bild zu sehen ist, wird das Chaos andauern. Es mag vielleicht von Bedeutung sein, dass Personen verdrängt wurden oder nicht mehr in Erscheinung treten, aber dieses Bild stellt die Seite des Buches für Frieden dar, die äußerst unachtsam und grob umgeblättert wird. Wenn wir erneut auf diese Seite zurückkommen, werden bzw. müssen wir Herrn Öcalan an erster Stelle sehen. Der Punkt, an dem wir heute stehen, erlaubt uns keine weiteren Manöver.
Der dritte Parteikongress der HDP war regelrecht eine Massendemonstration. Trotz Repressionen und unzähligen Verhaftungen nahmen 32.000 Menschen an dem Kongress teil. Wegen Grüßen an Öcalan wird ermittelt. Was empfiehlt die HDP, um die Einengung der türkischen Politik zu überwinden?
Öcalan zu grüßen bedeutet, den Frieden und die Demokratie zu grüßen. Gegrüßt haben wir eigentlich die Idee vom Frieden und den Willen von Herrn Öcalan. Die Tatsache, dass ein Mitglied der Delegation, in der wir fast drei Jahre Seite an Seite zusammengearbeitet haben, HDP-Kovorsitzender war und ein weiteres Mitglied Kongressratsvorsitzender, spricht für sich. Nicht nur Öcalan wird einer unrechtmäßigen, rechtswidrigen und heuchlerischen Isolation unterzogen, sondern auch der Frieden und der Wille für demokratische Politik. Die derzeitige politische Einengung kann durch ein kollektives Streben nach Frieden und Demokratisierung überwunden werden. Das ist der Preis, den die HDP bezahlen soll. Die HDP und die demokratischen Kräfte haben anhand der hohen Beteiligung, mit ihrem Enthusiasmus und dem Parteiprogramm gezeigt, dass sie die wichtigsten Vertreter*innen für Frieden und Demokratie sind und nicht zerschlagen werden können.