„Die Revolution in der Türkei ist der Schlüssel für die Befreiung der Region“

Tekin Yoldaş aus dem Zentralkomitee der linken Guerillaorganisation DKP-BÖG erinnert im Interview an den in Raqqa gefallenen internationalistischen Revolutionär Ulaş Bayraktaroğlu.

Ulaş Bayraktaroğlu in Rojava

Die linke Guerillaorganisation DKP-BÖG (Partei der revolutionären Kommunarden / Vereinte Freiheitskräfte) kämpft gemeinsam mit der kurdischen Freiheitsbewegung und vielen anderen linken Gruppen unterschiedlicher Strömungen im Bündnis HBDH (Vereinte Revolutionsbewegung der Völker) gegen den türkischen Faschismus. Dieser Kampf wird nicht nur in Nordkurdistan und in der Türkei geführt; der Freiheitskrieg gegen den Fortsatz des türkischen Faschismus, den mörderischen IS, stellt einen wichtigen Fokus der DKP-BÖG und vieler anderer linker internationalistischer Kämpfer:innen dar. Einer von ihnen war der Ulaş Bayraktaroğlu. Der Internationalist aus der Türkei mit dem Nom de Guerre Mehmet Kurnaz fiel am 9. Mai 2017 im nordsyrischen Raqqa im Kampf gegen den Terror der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat” (IS). 

Im ANF-Interview erinnert Tekin Yoldaş aus dem Zentralkomitee der DKP-BÖG an den Kommandanten.


Wann haben Sie Ulaş Bayraktaroğlu kennengelernt? Was können Sie über ihn berichten?

Er war als Revolutionär ein Vorbild für uns alle. Ich lernte ihn im Jahr 2000 kennen. Wir spürten immer die revolutionäre Entschlossenheit, seinen Enthusiasmus und seine Überzeugung. Er war für uns mit seinem Kampf und seiner Praxis eine Führungsperson. In der Jugendbewegung, in der Universitätsjugend, bei den YÖK-Protesten, beim Gezi-Widerstand hat er uns im Kampf angeführt. Seine Vorreiterrolle war für uns bei allen Aktionen, an denen er beteiligt war, und in allen Bereichen, an denen er sich aufhielt, immer entscheidend. Er hatte eine entschlossene Haltung und eine natürliche Initiativkraft. Er war ein Genosse, der uns mit seinem Leben und seiner Haltung angeführt hat. Besonders während des Gezi-Widerstandes wurde seine Rolle bekannt, und er wurde zu einem Symbol.

Dogmatisches Revolutionsverständnis reichte ihm nicht aus“

Für Genosse Ulaş reichte es nicht mehr aus, revolutionäre Arbeit im klassischen Stil zu machen, wie sie schon lange in der Türkei praktiziert wird. Es reichte ihm nicht, das klassische und sehr begrenzte Verständnis von revolutionärer Arbeit der bekannten Organisationen in der Türkei weiterzuverfolgen. Er wurde nach dem Gezi-Widerstand verhaftet. Nach seiner Freilassung ging er in die Medya-Verteidigungsgebiete. Vor unserer Formierung als Revolutionäre Befreiungsorganisation des Proletariats (PDK-Ö) in Heftanîn war der erste Schritt erstmal die praktische Umsetzung. Wir hatten dort ein Hauptquartier, er war dort der Verantwortliche. In dieser Zeit beteiligte er sich an der Ausbildung der Freundinnen und Freunde, die zu uns kamen. Zu diesen Freunden gehörten Aziz, Aynur und Idil. Genosse Ulaş spielte eine wichtige Rolle bei der Bildung der Führungskader der DKP-BÖG.

Seine Führung und sein revolutionäres Handeln befanden sich auf höchstem Niveau. Er setzte damit Maßstäbe für seine Genossinnen und Genossen, die sich daran ein Beispiel nahmen. Er hat uns mit seiner Lebensweise und seinem revolutionären Geist angeführt. Wenn man mit ihm arbeitete und kämpfte, gab er einem immer Zuversicht. Er gab auch bei militärischen Aktionen Selbstvertrauen.

Ich ging nach seinem Tod in die Berge“

In diesem Sinne war die Begegnung mit ihm für mich ein Wendepunkt in meinem Leben. Nachdem er gefallen war, beschloss ich, mich dem Kampf in den Bergen unter dem Dach der DKP-BÖG anzuschließen. Wir sind entschlossen, den Kampf und die Sache, die er hinterlassen hat, nicht aufzugeben und seine Fahne weiterzutragen. Wir standen während des Gezi-Widerstands Seite an Seite mit ihm, er war während des Taksim-Widerstands dabei. Genosse Ulaş hätte niemanden zu einer Aktion geschickt, die er nicht selbst durchführen würde. In diesem Sinne waren sein Enthusiasmus und seine Energie groß.

Seine Teilnahme an der Revolution von Rojava war wichtig“

Seine Beteiligung an der Revolution von Rojava von Anfang an hatte auch für die revolutionäre Bewegung in der Türkei eine große Bedeutung. Er war an der Entscheidung beteiligt, die Vereinigte Freiheitsbewegung (BÖG) zu gründen. Die Vereinigte Freiheitsbewegung wurde während des Kobanê-Krieges gegründet. Es gab Abteilungen von Necdet Adalı, Tamer Arda und Talat Türkoğlu. Die Organisierung und Umsetzung all dieser Prozesse ging auf die Initiative von Genosse Ulaş zurück. Danach nahm er an der Offensive auf Minbic, auf Raqqa und an all den anderen Kämpfen teil. Genosse Ulaş war ein Mensch, der in seinem Leben die Revolution in die Praxis umgesetzt hat. Das ist sehr wichtig, denn es gibt das Reden über die Revolution und das Theoretisieren über sie, und dann gibt es das Umsetzen im eigenen Leben. Genosse Ulaş war in der Lage, sie in seinem Leben zu verwirklichen.

Er kam mit uns aus der Tradition von Kurtuluş. In dieser Tradition stand er für eine Linie, die über das legale Feld hinausging und den bewaffneten Kampf führte. Er betrachtete die Verbindung zwischen der Arbeiterklasse und der revolutionären Gewalt als einen sehr kritischen Punkt. Seine Praxis war ein Vorbild für viele junge Genossen. In diesem Sinne nimmt er heute einen wichtigen Platz in der Geschichte der Vereinigung der Revolution in der Türkei und Kurdistan ein. Sein revolutionärer Geist und seine Praxis sind weiterhin ein Beispiel für uns. Auch wenn er uns physisch verlassen hat, leben seine Gedanken, Taten und Schriften in unserem Kampf weiter. Er wird weiterhin ein Anführer unseres Kampfes sein.

Mit der Revolution in Rojava nahmen Internationalist:innen aus zahlreichen Ländern am Krieg teil. Ulaş Bayraktaroğlu gehörte zu diesen Revolutionär:innen, die mit dem Bewusstsein der revolutionären Einheit im Nahen Osten direkt am Kampf in Rojava teilnahmen. Welchen Einfluss hat sein Beispiel auf die revolutionären Bewegungen in der Türkei?

Genosse Ulaş hatte an der Marmara-Universität Nahostpolitik studiert. Er hatte einen Abschluss in Anthropologie. Zuvor war er in den Libanon gereist, um sich mit der Hisbollah zu befassen. In der Zeit des Konflikts mit Israel hatte er an einigen Konferenzen teilgenommen, die dort abgehalten wurden. Er interessierte sich für die Politik des Nahen Ostens. Seine aktive Beteiligung an der Rojava-Revolution stand dann in direktem Zusammenhang damit. Da er die Gleichung, die Akteure und die Entwicklungsdynamik der Politik im Nahen Osten kannte, wollte er in einem solchen Prozess nicht schweigen. Auch verstand er den IS als einen faschistischen Komplex mit der AKP und argumentierte, dass ein wirksamer Kampf dagegen sowohl in Rojava als auch im ganzen Land geführt werden müsse. Es entstand ein Bewusstsein, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. So bildeten sich Strukturen heraus, um gegen die Organisierung des IS durch die Regierung, die von ihr verübten Massaker, das Pirsûs-Massaker und das Massaker vom 10. Oktober vorzugehen und den Kampf gegen den IS zu organisieren. In diesem Sinne wurde die BÖG im Lande organisiert. Es war Ulaş Bayraktaroğlu, der diese direkt organisierte, die Vorschläge und die Perspektive gab. Er tat dies mit einem revolutionären Verständnis der Politik des Nahen Ostens, er wusste, dass die Revolution in der Türkei einen kritischen Punkt für den Nahen Osten darstellte. Denn die Zerschlagung des AKP/MHP-Faschismus wäre eine große Chance für die Völker des Nahen Ostens.

Die türkische Regierung stellt mit Repression und ihren Angriffen auf viele Völker der Region ein Hindernis für die Entwicklung einer demokratischen Revolution im Nahen Osten dar. In diesem Sinne hat Genosse Ulaş auch eine aktive Rolle bei der Gründung der HBDH (Vereinte Revolutionäre Bewegung der Völker) in den Medya-Verteidigungsgebieten übernommen. Die Vereinte Revolutionäre Bewegung der Völker ist eine Struktur, die die Möglichkeit bietet, die Türkei und Kurdistan zu vereinen und der Revolution in der Türkei eine eigene Dynamik zu verleihen. In diesem Sinne ist diese Bewegung essentiell für die türkische Revolution ist. Die Ideen des Genossen Ulaş werden sowohl von uns als DKP-BÖG aufgegriffen als auch in den Reihen der HBDH gelebt.

Die DKP-BÖG ist eine neue Formation unter den revolutionären Bewegungen in der Türkei. In der Türkei und in der Region herrscht eine schwere soziale, politische und wirtschaftliche Krise. Als Bewegung haben Sie sich in gewisser Weise mit der Perspektive der Verwirklichung der Revolution in der Türkei formiert. Wie viel Potential hat die DKP-BÖG, um dieser Verantwortung gerecht zu werden?

Als Bewegung haben wir uns eigentlich zu diesem Zweck gegründet. Wir haben eine Organisierung an der Front in der Türkei. Wir haben keine Organisierung in Kurdistan. Unser Ziel ist die Revolution in der Türkei. Ulaş Bayraktaroğlu ist der Gründer und Vorreiter unserer Partei. Unser Ziel ist es, den Weg, den er für die Verwirklichung der vereinigten Revolution in Kurdistan und der Türkei eröffnet hat, entschlossen fortzusetzen. Das haben wir bereits in unseren Beschlüssen des zweiten Kongresses, der später stattfand, klar zum Ausdruck gebracht.

Nach 2015, insbesondere nach dem Massaker von Pirsûs und nach dem Ende des Waffenstillstands, kam es in den Medya-Verteidigungsgebieten, in Rojava, Nordkurdistan und im Nahen Osten zu einer sehr intensiven Phase der militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat. Dies wirkte sich auf die türkische Politik aus. Während sich die türkische Linke eher rechts und passiv verhielt, positionierte sich die DKP auf einem revolutionären und radikalen politischen Fundament. In diesem Prozess wurden Hunderte unserer Mitglieder verhaftet, Dutzende unserer Kader sind gefallen, einige von ihnen in Rojava, einige weitere sind bei Aktionen in der Türkei oder auf dem Weg in die Türkei gefallen. Unser Genosse Mehmed Ali ist in Dersim gefallen. Darüber hinaus haben wir heute Genossinnen und Genossen, die in der Türkei wegen des DKP/BÖG-Verfahrens inhaftiert sind. Insgesamt sind wir entschlossen, den Weg und die Linie, die der Genosse Ulaş eröffnet hat, weiterzugehen. Es ist klar, dass wir den von ihm eröffneten Weg fortsetzen und uns seines Andenkens würdig erweisen werden. Sein Ziel war die Verwirklichung der Revolution in der Türkei. Als Partei sind wir dazu entschlossen. Die Gründung der HBDH ist bereits das Ergebnis dieses Bestrebens. Gleichzeitig setzen wir dies auch in die Praxis um. Die aktuellen Aktionen in den Städten, die Orientierung am revolutionären Volkskrieg und dessen praktischer Umsetzung bringen dies zum Ausdruck. Unsere Partei ist entschlossen, diese Linie auf bestmögliche Weise weiterzuführen und zu verwirklichen. Es sind die Revolutionärinnen und Revolutionäre, die das Andenken an Ulaş Bayraktaroğlu bewahren und weiterführen werden. Je entschlossener sie diesen Kampf organisieren, je ausdauernder sie sind, desto mehr werden sein Andenken, sein Kampf und sein Name an die kommenden Generationen weitergegeben.

Die Revolution in der Türkei öffnet den Völkern den Weg“

Die Verwirklichung der Revolution in der Türkei ist ein Faktor, der auch andere revolutionäre Dynamiken in der Region in Schwung bringen wird. Die Türkei verfügt über die zweitstärkste Armee der NATO und hat die Rolle eines Gendarmen des Imperialismus im Nahen Osten. Sie ist ein Hindernis für die Volksbewegungen, die sich in der Region entwickeln könnten. Die Verwirklichung der Revolution in der Türkei wird den Weg für die Herausbildung der Revolution in Syrien, im Irak, im Iran und bei allen Völkern des Nahen Ostens ebnen. Der türkische Staat errichtet ein Unterdrückungsregime für diese Völker. In diesem Sinne wird der Sturz dieses Regimes auch eine Grundlage für die Freiheit dieser Völker schaffen. Es ist notwendig, diese Realität zu erkennen.

Die HBDH haben strategische Bedeutung“

Die bestehenden Systeme bieten den Völkern keine Zukunft mehr. Heute wird die Zukunft der Völker der Welt nur im wissenschaftlichen Sozialismus, im Kampf für die Freiheit der Unterdrückten und in der eigenständigen Suche und dem Kampf der Völker möglich sein. So hat die Oktoberrevolution 1917 eine Epoche eingeläutet. Diese Revolution ist unter den heutigen konkreten Bedingungen nicht zu verwirklichen, aber neue Revolutionen sind im Sinne der Völker der Türkei und der Region. Die Verwirklichung der Revolution in der Türkei ist auch die Garantie für die Revolution in Rojava. Sie wird das Ende der Besatzung in Südkurdistan und die Befreiung der Menschen dort bedeuten. In diesem Sinne hat die HBDH eine strategische Bedeutung für unsere Partei. Die Verwirklichung der Revolution in der Türkei wird auch die Unterdrückung der Völker in diesen Regionen beseitigen. Der Erfolg der HBDH wird der Erfolg aller Völker des Nahen Ostens sein.