Hozat: Unter der Führung freier Frauen werden wir siegen

Ein bedeutender Teil der Gesellschaft der Türkei steht unter dem Einfluss einer rassistisch-nationalistischen Politik und Propaganda. Diese Menschen begreifen das Unrecht, das an den Kurd:innen verübt wird, als notwendig und legitim.

Die Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Besê Hozat, äußert sich im dritten Teil des Interview mit der Tageszeitung „Yeni Özgür Politika“ zum Zustand der Regierung und der Opposition in der Türkei, der herrschenden Wirtschaftskrise, den ökologischen Zerstörungen in Kurdistan und der „Anwaltsrolle“ der in Europa lebenden Kurdinnen und Kurden.

Zeitgleich zu den Besatzungsangriffen, die unter der Leitung der AKP/MHP stattfinden, scheinen sowohl die Regierung als auch die Opposition der Türkei eine Zukunft ohne die Kurdinnen und Kurden zu planen, ohne dies jedoch offen auszusprechen. Parallel dazu droht ein Verbot der HDP. Was für eine Politik steht dahinter?

Die Politik, die auf einen Genozid am kurdischen Volk abzielt, ist eine Politik des [türkischen] Staates. Diese Politik ist mit der Machtübernahme der AKP auf der Basis einer türkisch-islamischen Synthese auf ein völlig neues Niveau gehoben worden. Für den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden hat er ein Bündnis zwischen religiösem Fanatismus und rassistischem Nationalismus geschaffen und beide an der Macht beteiligt. Diese auf einem religiös-rassistischen Nationalismus basierende Koalition ist die brutalste und gefährlichste Regierung seit der Gründung der Türkei. Es handelt es sich um einen rassistischen und tiefschwarzen Faschismus. Dieser Faschismus verfolgt das Ziel, den Völkermord an den Kurden zum Abschluss zu bringen, um letztendlich alle revolutionären und demokratischen Dynamiken in der Türkei zu vernichten.

Das Verbotsverfahren gegen die HDP ist ein Teil dieses Versuches, den Genozid am kurdischen Volk durchzuführen und eine faschistische Diktatur zu errichten. Das Verbot der HDP soll also als Teil des umfassenden Völkermordplanes gegen die Kurden durchgesetzt werden. Die CHP, İyi Parti, Deva, Gelecek Parti und die anderen Staatsparteien – also alle Kräfte außerhalb der demokratischen Opposition – schweigen zu den politischen und militärischen Angriffen. Denn sie unterstützen diese Angriffe. All diese Staatsparteien wünschen sich, dass die Freiheitsbewegung Kurdistans zerschlagen und der Genozid an den Kurden zum Erfolg geführt wird. Wäre dies nicht der Fall, würden sie ernsthafte Schritte zur Lösung der kurdischen Frage unternehmen. Sie würden klar Stellung gegen das HDP-Verbot beziehen und die HDP umfassend unterstützen. Sie würden offen Haltung gegen die politischen Vernichtungsoperationen beziehen und gegen alle Angriffe Widerstand leisten. Genauso würden sie die Isolation [Abdullah Öcalans] auf Imrali nicht verteidigen und die Besatzungsangriffe nicht unterstützen.

Es ist offensichtlich, was für eine Politik die faschistische AKP/MHP-Regierung mit dem Verbot der HDP verfolgt. Indem sie das Hindernis, das die HDP für sie darstellt, aus dem Weg räumt und alle demokratischen Dynamiken zerschlägt, möchte sie eine verfassungsrechtlich abgesicherte faschistische Diktatur etablieren. Wenn mit der HDP die stärkste demokratische Oppositionspartei ausgeschaltet wird, stehen der faschistischen AKP/MHP-Diktatur keinerlei Hindernisse mehr im Weg. Um dies zu verhindern, muss die demokratische Opposition ihre Kräfte vereinen und ihren gemeinsamen Kampf verstärken. Alle Institutionen, Organisationen, Kreise und Einzelpersonen, die sich als links, sozialistisch, revolutionär und demokratisch verstehen, müssen die HDP unterstützen und gemeinsam mit ihr ein demokratisches Kampfbündnis bilden. Diese Schritte sind unverzichtbar, wenn eine demokratische Zukunft der Türkei gesichert werden soll. Daher müssen die Sol Parti [Linkspartei] und die TKP [Kommunistische Partei der Türkei] ihre aktuelle Haltung überdenken und sich dem demokratischen Bündnis anschließen. Aufgrund ihrer gespaltenen Haltung ist es den demokratischen Kräften bisher nicht gelungen, starke Synergiekräfte zu erzeugen. Die faschistische AKP/MHP-Regierung profitiert von dieser gespaltenen und zerfaserten Haltung der demokratischen Kräfte.

Die CHP spielt wie gewohnt die Stütze für die AKP/MHP-Regierung. Sie entwickelt sich immer mehr zu einer neuen İyi Parti. Genauso wie die AKP sich komplett zu einer zweiten MHP entwickelt hat, wird die CHP immer mehr zu einer weiteren İyi Parti. Die ,Nationale Koalition` [Millet İttifakı] wird maßgeblich von der Mentalität und Politik der İyi Parti geprägt. Diese Koalition kämpft gegen die ,Republikanische Koalition` [Cumhur İttifakı], indem sie deren Mentalität, Politik, Ausdrucksweise und Methoden kopiert. So entwickeln sich beide Koalitionen immer stärker zu identischen Zwillingen. Diese beiden im Geist vereinten Koalitionen haben den Völkern der Türkei nichts zu bieten, außer Schaden und Schlechtes. Eine ,Nationale Koalition`, die davor Angst hat, die HDP zu unterstützen, und dies nicht als in ihrem Interesse betrachtet, steht nicht an der Seite der Völker, sondern ist der verlängerte Arm der faschistischen AKP/MHP-Regierung.

Die Lösung liegt in der Demokratie-Koalition. Diese Koalition, die von der HDP angeführt wird, ist dazu in der Lage, die Türkei zu demokratisieren und in eine freie, gleichberechtigte und gerechte Zukunft zu führen. Je mehr die Demokratie-Koalition an Kraft gewinnt, desto schneller wird der sich bereits im Zusammenbruch befindende Faschismus stürzen. Weder durch ein HDP-Verbot noch durch den Besatzungsangriff auf die Zap-Region wird sich diese faschistische Regierung schützen können.

Mit die wichtigsten Themen, die aktuell in der Türkei diskutiert werden, sind die wirtschaftliche Krise und mögliche Neuwahlen. Die Bevölkerung in der Westtürkei wurde in eine Lage versetzt, in der sie den in Kurdistan andauernden Krieg praktisch nicht wahrnimmt. Wie müssen wir die politisch-wirtschaftliche Krise im Land, aber auch die entweder staatstreue oder apolitische Haltung der Bevölkerung bezüglich des Krieges verstehen?

Ein bedeutender Teil der Gesellschaft der Türkei steht unter dem Einfluss einer rassistisch-nationalistischen Politik und Propaganda. Dieser Teil der Gesellschaft wurde durch diese Rhetorik vergiftet. Er hat seinen gesunden Geistesverstand und seine klare Denkfähigkeit eingebüßt. Dieser Bevölkerungsteil ist einverstanden mit der kurdenfeindlichen Politik und den Völkermordangriffen. Diese Menschen begreifen die Feindlichkeit und all das Unrecht, das an den Kurdinnen und Kurden verübt wird, als notwendig und legitim. Wir haben es also mit einer Gesellschaftsstruktur zu tun, die gemäß der völkermörderisch-kolonialistischen Staatsideologie aufgebaut wurde. Die faschistische Regierung und die staatseigene Opposition befördern dies ununterbrochen. Das Hauptargument für die Verbreitung des Nationalismus in der Gesellschaft der Türkei besteht in der Feindschaft gegenüber Kurden, Armeniern, Griechen und Aleviten. Diese ideologischen Argumente werden in einem bestimmten Teil der Gesellschaft konstant lebendig gehalten, wodurch diese Menschen in eine grundlegende Stütze des faschistischen Staates und der aktuellen Regierung verwandelt werden. Sie werden zu Faschisten gemacht und verlieren ihre sozialen Fähigkeiten. Dieser Gesellschaftsteil nimmt nicht im Geringsten die enorme Zerstörung und den riesigen Schmerz wahr, die durch den Krieg in Kurdistan verursacht werden. Stattdessen applaudieren sie von Weitem und fordern immer mehr Krieg. Diejenigen, die am besten Krieg gegen die Kurden führen, werden belohnt, indem sie an der Macht gehalten bzw. an die Macht gebracht werden.

Ohne Zweifel wünscht sich ein wichtiger Teil der Gesellschaft der Türkei Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Doch während dafür eine starker Kampf unverzichtbar ist, hat dieser Gesellschaftsteil ein Führungsproblem und verstummt deshalb angesichts der intensiven Unterdrückung. Die Gesellschaft ächzt unter Hunger und Armut. Sie erkennt nicht klar genug, dass das Fehlen von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit und die Wirtschaftskrise ein Ergebnis der Kriegspolitik sind. Der demokratischen Opposition gelingt es nicht ausreichend, dies der Gesellschaft zu erklären. Aufgrund dieser Situation entsteht kein ausreichend starker Kampf der Gesellschaft gegen die Kriegspolitik.

Die Türkei setzt all ihre Ressourcen für den Krieg gegen die Kurden ein. Damit ist der Völkermordkrieg gegen das kurdische Volk der ausschlaggebende Grund für die ökonomische Krise im Land. Milliarden werden für das Kriegsbudget zur Verfügung gestellt. Während die Völker der Türkei massiv unter Hunger und Armut leiden, versucht sich die Regierung des Landes durch Krieg, Unterdrückung und Tyrannei an der Macht zu halten. Die faschistische Regierung zieht ihre Kraft aus der unter Zerstörung, Armut und Hoffnungslosigkeit leidenden Gesellschaft. Durch den Spezialkrieg wurde in der Türkei eine blinde, verdummte und einer Herde gleichende Masse erschaffen. Sie wird als Gesellschaft bezeichnet, doch handelt es sich eher um eine Masse von Menschen, die ihrer gesellschaftlichen Eigenschaften vollständig beraubt wurden. Diese Masse betrachtet die verschiedensten Formen von Erniedrigung, Tyrannei, Hunger und Armut geradezu als ihr Schicksal und als eine Art Prüfung. Durch ihre sklavenähnliche Haltung verwandelt sie sich zu einer Quelle, aus der die Regierung ihre Kraft zieht. Es ist schlichtweg unmöglich, dass eine Gemeinschaft, die in solch einen Zustand geraten ist, den Krieg gegen das kurdische Volk wahrnimmt und gegen ihn Position bezieht.

Zugleich findet in Kurdistan und der Türkei auch eine enorme ökologische Zerstörung statt. Sie ist ein Teil der Völkermordangriffe. Die Gesellschaft der Türkei sieht diesen Geschehnissen einfach nur zu. Auch wenn nicht auf dem selben Niveau wie in Kurdistan, so hat die ökologische Zerstörung doch in der Türkei mittlerweile ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Die faschistische Regierung hat die gesamte Natur des Landes zur Plünderung freigegeben. Mit Staudämmen trocknet sie die Flüsse des Landes aus und für den Bergbau rodet sie die Wälder. All das stellt einen riesigen Krieg gegen die Gesellschaft und die Natur dar. Doch sind die Aufmerksamkeit und der Kampf der Gesellschaft gegen diese Entwicklungen nur äußerst schwach. Auch hier hat der Spezialkrieg die Gesellschaft vergiftet.

Ohne Zweifel lassen sich wichtige Teile der Gesellschaft nicht von dem Spezialkrieg des faschistischen Staates und der Regierung vereinnahmen. Es findet ein enormer gesellschaftlicher Kampf statt. Wenn die Wirkung des speziellen psychologischen Krieges gegen die Gesellschaft der Türkei gebrochen und die Gesellschaft entschlossen angeführt wird, wird eine enorme gesellschaftliche Widerstandskraft zutage treten. Es ist deshalb extrem wichtig, dass die demokratische Opposition alle Teile der Gesellschaft erreicht, die Gesellschaft durch lokale Arbeiten organisiert und sie zum Kampf gegen den Faschismus bewegt. In der aktuellen Phase ist all das unverzichtbar. Das demokratische Potential der Gesellschaft der Türkei ist sehr groß. Das Problem besteht in der Organisierung und Aktivierung dieses Potentials. Sobald das gelingt, wird die AKP/MHP-Regierung stürzen und der Weg für die Demokratisierung des Landes geebnet werden. Dann wird auch Rêber Apo [Abdullah Öcalan] seine physische Freiheit erreichen und es werden alle Probleme der Türkei in Bezug auf Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Wirtschaft gelöst werden, insbesondere die kurdische Frage.

Die kurdische Befreiungsbewegung hat bezüglich des jüngst begonnenen Krieges wiederholt Erklärungen abgegeben, während die Guerilla Kurdistans an der Front praktische Antworten auf die Angriffe gibt. Was können insbesondere die kurdische Bevölkerung in Europa und die dort lebenden kurdischen Jugendlichen tun?

Die Guerilla leistet einen wirklich heldenhaften Widerstand gegen die Besatzung durch den türkischen Kolonialstaat. Sie ist von einem apoistisch-selbstlosen Geist erfüllt und versetzt der Besatzerarmee immer wieder schwere Schläge. Im Zuge des Widerstandes in Zap und Avaşîn sind sehr wertvolle Genossinnen und Genossen von uns gefallen. Ich möchte an dieser Stelle voller Respekt, Liebe und Dankbarkeit an die Gefallenen erinnern. Und ich grüße alle Freundinnen und Freunde, die heute mit einem übermenschlichen Willen Widerstand leisten. Die Frauenguerilla YJA Star beteiligt sich sehr aktiv und erfolgreich an dem aktuellen Widerstand in Zap und Avaşîn, genauso wie sie dies zuvor in den Jahren 2020 und 2021 in den Regionen Heftanîn, Metîna, Zap und Avaşîn getan hat. Die Kämpferinnen der YJA Star haben in diesem Zuge viele erfolgreiche Angriffe durchgeführt. Die Frauenguerilla steigert durch ihre Fähigkeiten, Disziplin und militärische Performance die Qualität und den Erfolg des Widerstandes. Das ist eine Entwicklung, die uns sehr stolz macht. Von ganzem Herzen grüße ich die gesamte Kommandantur und alle Mitglieder der YJA Star und gratuliere ihnen zu ihrem Widerstand. Unter der Führung der freien Frau werden wir siegen gegen diesen Feind, der gegen alle Völker und Frauen nichts als Feindschaft hegt. Wir werden Kurdistan befreien und folglich auch die Türkei und den gesamten Nahen Osten demokratisieren.

Unser in Europa lebendes Volk trägt sehr entscheidend zum aktuellen Widerstand bei. Von ganzem Herzen grüße ich den Widerstand unseres Volkes und gratuliere ihm dazu. Doch unser Kampf- und Widerstandspotential in Europa ist noch um ein Vielfaches größer. Die Kurdinnen und Kurden können ihre Kraft noch viel effektiver und erfolgreicher zum Einsatz bringen. Die Protestaktion in England war sehr erfolgreich. Der Guerilla-Mekab [Schuh der Guerilla], den eine südkurdische Mutter dort gegen Mesrûr Barzanî erhob, hat ihn vollkommen geschockt.

Europa verhält sich verlogen, schweigt zu den Angriffen und unterstützt die Türkei militärisch. Es beteiligt sich daher an diesen Angriffen. Der Kampf unseres in Europa lebenden Volkes und unserer internationalen Freundinnen und Freunde kann die EU-Staaten durchaus dazu zwingen, ihre Unterstützung für den türkischen Staat noch einmal zu überdenken. Unser Volk kann durch seine Solidarität und Einheit mit den Gesellschaften Europas die dortigen gemeinsamen Kampfbündnisse verstärken. Wenn sich tausende oder zehntausende europäische Bürgerinnen und Bürger an den Proteste beteiligen, wird dies eine sehr große politische Wirkung haben und die Politik der dortigen Staaten beeinflussen. Unser Volk in Europa spielt seit Langem erfolgreich die Rolle eines internationalen Anwaltes der Kurdinnen und Kurden. Es kann den Kampf für Freiheit und Demokratie enorm stärken, indem es die Zahl unserer internationalen Freundinnen und Freunde vergrößert, strategische Bündnisse aufbaut und gemeinsame Kampfbündnisse gründet. Unser in Europa lebendes Volk verfügt über das notwendige Bewusstsein, den Willen, die Fähigkeit und die Energie, um all dies erfolgreich zu meistern.