Analyse: Die Zukunft Syriens

Selahattin Erdem sieht in den aktuellen Angriffen von HTS und SNA in Syrien einen Plan der NATO zur Umgestaltung des Nahen Ostens am Werk. Er sieht die einzige Lösung in der Selbstverteidigung und der Schaffung einer Demokratischen Föderation Syriens.

„Die Gefahren und Chancen richtig einschätzen“

Das Erwartete ist eingetreten: Zwanzig Tage nach der Wahl in den USA begann mit der sogenannten „Schlacht um Aleppo“ ein neuer Krieg in Syrien. Es handelte sich allerdings nicht um eine Schlacht. Ähnlich wie beim Vormarsch des IS auf Mosul im Juni 2014 marschierten Truppen von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und der Syrischen Nationalarmee (SNA)1 von Idlib nach Aleppo und eroberten innerhalb von drei Tagen einen Großteil der Stadt. Medienberichten zufolge zogen sich die Truppen des Assad-Regimes ebenso wie iranische und russische Kräfte ohne Widerstand zurück. Aus Hama kommen ähnliche Berichte.2 An mehreren Fronten kommt es zu heftigen Kämpfen zwischen den Angreifern und den Demokratischen Kräften Syriens (QSD). Es wird davon ausgegangen, dass sich der Krieg auf ganz Syrien ausweiten wird und der Vormarsch auf Damaskus abzielt.

Bekanntlich ist HTS aus der Umbenennung der Al-Nusra-Front, des syrischen Ablegers von al-Qaida, und dem Zusammenschluss einiger anderer Dschihadistengruppen entstanden. Immer wieder wird berichtet, dass HTS aktiv von Großbritannien und Saudi-Arabien unterstützt wird und Beziehungen zu den USA und Israel unterhält. Bekannt sind vor allem die Verbindungen zur AKP/MHP-Regierung. Bei der SNA handelt es sich um ein Konglomerat pro-türkischer Gruppen, das von der AKP/MHP-Regierung dirigiert wird.

Vermutungen, dass ein Großangriff bevorstehe, hatte es schon Monate vor dem 27. November gegeben. Immer wieder hieß es, HTS habe ausreichend Kraft akkumuliert, um einen solchen Angriff durchzuführen. Die Tatsache, dass HTS und SNA gemeinsam angreifen, zeigt, dass es eine gewisse Absprache und gemeinsame Planung zwischen beiden Kräften gibt. Es liegt der Verdacht nahe, dass dieser Plan während des Besuchs des neuen NATO-Generalsekretärs Rutte in der Türkei und seines Treffens mit Tayyip Erdoğan am 25. November abschließend diskutiert wurde.

Welche Art von Vereinbarung haben die HTS und die SNA miteinander getroffen? Natürlich ist es im Moment nicht möglich, den genauen Inhalt in Erfahrung zu bringen. Es stellt sich die Frage, ob sie weiter gemeinsam vorgehen werden oder ob der Punkt kommt, an dem sie beide um Vorherrschaft kämpfen. Auch das ist im Moment unklar. Wenn wir uns die bisherigen Angriffe ansehen, dann zielen diese offensichtlich darauf ab, gegen die iranisch-russische Präsenz in Syrien vorzugehen. Die Zukunft des Assad-Regimes ist vorerst unklar. Die Erklärung der US-Regierung, das Verhalten der Assad-Regierung habe zu dieser Situation geführt, deutet darauf hin, dass die Verhandlungen zwischen den USA und der Assad-Regierung zu keinem Ergebnis geführt hatten, dass das Regime die Forderungen der USA nicht akzeptiert hatte.

Andererseits ist es bemerkenswert, dass der Angriff auf Aleppo unmittelbar nach einem zweimonatigen Waffenstillstand zwischen Israel und Libanon erfolgt. Offensichtlich hat der Krieg der letzten Monate den Libanon offen und bereit für eine Neustrukturierung gemacht, aber dabei geht es nicht nur um den Libanon. Auch Syrien soll für eine Neustrukturierung bereit gemacht werden. Das Mittel hierzu ist Krieg, und in diesem Sinne sollte der mit dem Angriff auf Aleppo begonnene Krieg betrachtet werden. Auch wenn die US-Regierung etwas anderes behauptet, ist klar, dass der Angriff auf Aleppo das Werk der von den USA angeführten Kräfte ist.

Es ist offensichtlich, dass das Assad-Regime jetzt über den Haufen geworfen und die Verhältnisse in Syrien neu gestaltet werden sollen. Die Frage ist aber, welche Verhältnisse geschaffen werden sollen. Auch hier können wir im Voraus nichts Sicheres sagen, denn es hängt entscheidend vom Ausgang dieses Krieges ab. Auch wenn die Streitkräfte des Iran, Russlands und des Regimes bisher nicht gekämpft haben und die Angriffe daher reibungslos erfolgreich verliefen, täuscht man sich, wenn man davon ausgeht, dass das so bleibt und der Krieg schnell zu Ende gehen wird. Syrien verfügt über eine Vielfalt ethnischer Strukturen und organisierter Kräfte, daher ist es sehr wahrscheinlich, dass sich der begonnene Bürgerkrieg ausweitet und lang andauern wird.

Wir erinnern uns daran, wie die US-Regierung jahrelang in Afghanistan Krieg führte und das Land schließlich den Taliban überließ. Es ist offensichtlich, dass Syrien HTS, einem Ableger von al-Qaida, überlassen werden soll. HTS und die dahinter stehenden Kräfte werden Syrien wahrscheinlich in eine Föderation oder Konföderation mehrerer Regionen umwandeln. Wenn dies nicht geschieht, dann werden sie es möglicherweise in mehrere Teile aufteilen. Sie werden alles nach der Restrukturierung des Nahen Ostens ausrichten. Dem liegt die Sicherheit und Souveränität Israels und der Schutz der neuen Energierouten zu Grunde. Man wird dafür sorgen, dass die sunnitischen Kräfte in der Verwaltung an Einfluss gewinnen werden. Eigentlich sollte Assad noch eine Weile an der Macht gehalten werden, aber der aktuelle Krieg zeigt, dass sich diese Linie geändert hat. Es sieht so aus, als würde Assad in Zukunft keine Rolle mehr spielen.

Das ist angesichts der bisherigen Erklärungen offensichtlich. Nach dem Libanon soll nun auch die iranische Präsenz in Syrien beendet werden. Es kann auch sein, dass mit Russland eine Einigung über die Ukraine und andere Dinge erzielt wurde, aber die Frage der kurdischen Präsenz in Syrien und der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien konnte bisher nicht gelöst werden und wird in Zukunft in den Mittelpunkt rücken. Die Selbstverwaltung und die Kurd:innen stellen das Hauptziel des SNA-Arms des Angriffs dar. Es ist vollkommen offensichtlich, dass dies auch der Hauptgrund der Beteiligung der SNA an dem Angriff war. Die HTS brauchten insbesondere die SNA als Starthilfe, und diese Zusammenarbeit hat einen entscheidenden Anteil am Erfolg von HTS. Wie die Situation sich weiter entwickeln und wer die Hegemonie in Syrien erlangt, bleibt unklar, denn die Prioritäten von HTS und SNA unterscheiden sich grundsätzlich. Diese Widersprüche werden früher oder später zum Vorschein kommen und möglicherweise zu einer Spaltung führen.

Das Ziel der Türkei und ihrer SNA besteht einzig und allein darin, den kurdischen Einfluss und einen Status in Syrien zu verhindern. Im Gegensatz zur HTS zielen die Angriffe der SNA von Anfang an darauf ab, die kurdische Präsenz und Aktivität in Şehba, Minbic, Tabqa und Raqqa zu vernichten. Sobald die Truppen Aleppo erreicht hatten, wurden die Angriffe der SNA in diese Richtung umgeleitet. Seit dem 29. November gibt es Gefechte zwischen den QSD und der SNA. Die QSD schützen sowohl die kurdische als auch die arabische, armenische, assyrische, tscherkessische und turkmenische Bevölkerung.

Dieser Krieg wird über die Zukunft Syriens entscheiden. Die AKP/MHP-Regierung ist mit ihrer antikurdischen Politik derzeit offensichtlich die gefährlichste Kraft für Syrien. Es ist klar, dass die Diskussionen in Nordkurdistan und in der Türkei hauptsächlich auch in diesem Bezug geführt werden. Die Entwicklungen um die sogenannte Devlet Bahçeli-Initiative3, sind vollständig mit dem Krieg in Syrien verknüpft ist und absolut antikurdisch ausgerichtet.

Syrien ist in jeder Hinsicht multikulturell. Als Syrien gegründet wurde, war es, um dieser Realität gerecht zu werden, in fünf Regionen aufgeteilt. Jetzt ist es die Demokratische Konföderation Syriens, die die Einheit des Landes gewährleisten und eine demokratische Verwaltung auf der Grundlage des freien Lebens verwirklichen kann und die es allen ethnischen Identitäten ermöglicht, sich frei zu organisieren und in Einheit und Geschwisterlichkeit zu leben. Trotz der Gefahren ist der Weg für eine solche Chance für alle in Syrien lebenden Völker geebnet worden. Alle Völker, insbesondere die Kurdinnen und Kurden, sollten die Gefahren und Chancen richtig einschätzen, zu den Waffen greifen, ihre Selbstverteidigung entwickeln und diese von Rêber Apo aufgezeigte demokratische Lösung verwirklichen.

Quelle: Yeni Özgür Politika

1 SNA – von der Türkei geschaffenes und kontrolliertes Bündnis von dschihadistischen und rechtsextremistischen Söldnern.

2 Zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung des Artikels am 6. Dezember war Hama noch nicht an HTS gefallen, das syrische Regime hat mittlerweile selbst seinen Rückzug aus Hama eingeräumt.

3 Im Oktober hatte Devlet Bahçeli, Chef der rechtsradikalen MHP im türkischen Parlament geäußert, der seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali in nahezu völliger Isolation gefangene PKK-Begründer Abdullah Öcalan solle vor der DEM-Fraktion dem Terror abschwören und erklären, dass die PKK aufgelöst wird, dann könne man ihn freilassen. Gleichzeitig begann eine massive Repressionswelle gegen kurdische Stadtverwaltungen und die Zivilgesellschaft. Viele deuten die Initiative daher als einen Ansatz psychologischer Kriegsführung.