Sorgerechtsentzug wegen Aktivitäten für die kurdische Bewegung?

Zozan G. ist Mutter von fünf Kindern. Weil ihre 13-jährige Tochter sich politisch engagiert, soll der Mutter das Sorgerecht entzogen werden. In Oberhausen spielt sich ein Präzedenzfall ab, der ein Drohszenario für alle politisch aktiven Mütter darstellt.

Zozan G. aus Oberhausen ist alleinerziehende, berufstätige Mutter von fünf Kindern. Weil ihre 13-jährige Tochter an einer Aktion zur Unterstützung des Hungerstreiks politischer Gefangener gegen die Totalisolation Abdullah Öcalans im März 2019 teilnahm, droht der Mutter der Entzug des Sorgerechts für ihre fünf Kinder im Alter zwischen 15 und vier Jahren durch das Amtsgericht Oberhausen.

„Integriert und gut erzogen“

Zozan G. ist in der kurdischen Bewegung aktiv, sie spricht häufig auf Kundgebungen der Solidaritätsbewegung für Rojava in Duisburg, Oberhausen und Mülheim. Vor allem setzt sie sich für die Belange von Frauen in Kurdistan ein. Zozan wird vorgeworfen, ihre minderjährigen Kinder mit „PKK-Propaganda zu indoktrinieren“. Offensichtlich hat der Polizeiliche Staatsschutz Düsseldorf, also die politische Polizei, eine Eingabe an das Jugendamt der Stadt Oberhausen gemacht.

„Das Jugendamt ist sogar in meiner Abwesenheit zu mir nach Hause gekommen, um sich alle Zimmer in meiner Wohnung anzusehen, der Kindsvater hat sie hereingelassen. Nach diversen Gesprächen und Erkundungen kam die Vertreterin des Jugendamtes, Frau Merkel, jedoch zu dem Entschluss, dass die Kinder nicht gefährdet sind, ganz im Gegenteil, sie seien integriert und sehr gut erzogen“, berichtet Zozan.

Demokratisches Engagement als Straftat

Zozans Tochter L. ist eine sehr gute Schülerin. Die Akte wurde beim Jugendamt geschlossen, dennoch wurde ein Verfahren eröffnet, vermutlich auf Betreiben von Staats- oder Verfassungsschutz. Hintergrund ist die Teilnahme der 13-jährigen Tochter L. an einer Aktion gegen die Totalisolation Abdullah Öcalans am Düsseldorfer Landtag am 12. März 2019.

Im Frühjahr 2019 fanden weltweit Solidaritätsaktionen zu der immer dramatischer werdenden Situation von Leyla Güven und anderen politischen Gefangenen statt. Diese waren in einen Hungerstreik getreten, um die jahrelange Totalisolation des Repräsentanten der kurdischen Bewegung, Abdullah Öcalan, zu durchbrechen. L. und weitere Jugendliche wollten ein Informationsdossier an den Landtag übergeben, die Polizei vermutete eine Besetzungsaktion und nahm L. in Gewahrsam. Auch soll L. an einem „Kurdenmarsch“ von Mannheim nach Karlsruhe im Februar 2019 teilgenommen haben und „Straftaten“ begangen haben, wie das angebliche Zeigen von Fahnen mit dem Bildnis Öcalans.

Jahrelang bespitzelt

Im November 2019 fand die erste Gerichtsverhandlung statt. „Ich bin dort ohne Rechtsanwalt hingegangen, weil mir nicht bewusst war, dass man mir die Kinder wegnehmen will. Der mir gegenüber gemachte Vorwurf ist ‚Kindeswohlgefährdung‘. Meine Kinder sind nicht gefährdet, ich erziehe sie zu Menschen, die eine Meinung haben, menschliche Werte vertreten und auch dafür einstehen. Offensichtlich will man ein Exempel an mir statuieren, um mich einzuschüchtern, damit ich aufhöre, mich politisch zu engagieren“, so Zozan G. Vor Gericht wurden ihr Fotos und Mitschriften von politischen Aktionen der letzten Jahre vorgelegt. Sie wurde also offensichtlich jahrelang bespitzelt, obwohl sie sich immer im Rahmen angemeldeter demokratischer Aktionen bewegt hat und Gewalt ablehnt.

Der Staatsschutz unterrichtete das Jugendamt im Mai 2019, Zozan G. heiße die „Unterstützung der PKK-nahen Unterstützerszene gut. Es wird davon ausgegangen, dass L.G. weiter bei politischen PKK-Aktionen teilnehmen wird und sich ihre Nähe zur PKK-nahen Szene in Deutschland weiter verfestigen wird, ursächlich dürfte hierbei auch der Einfluss der Mutter Zozan G. sein“.

L. wird also jede eigene Haltung abgesprochen, die berechtigte politische Aktivität für die kurdische Sache wird diffamiert.

Kinder verhört

Die Richterin Bertante am Amtsgericht Oberhausen fand es offenbar notwendig, neben L. auch die anderen vier Kinder zu befragen. Das Gericht hatte eine Verfahrensbeiständin, sozusagen als „Anwältin der Kinder“, einbestellt. Diese rief noch einen Tag vor der Verhandlung bei der Richterin an und versuchte die Anhörung zum Wohl der Kinder zu verhindern. Insbesondere für den sechsjährigen S. der aufgrund von einem Hörfehler entwicklungsverzögert ist, sah die Verfahrensbeiständin eine Befragung als zu belastend. Aber auch sie konnte die Anhörung nicht verhindern. Entgegen der Empfehlung bestand die Richterin Bertante auf der Anhörung der Kinder, die am 20. Dezember durchgeführt wurde. Die Kinder wurden einzeln teilweise bis zu 20 Minuten befragt. Besonders für den sechsjährigen S. eine Qual: Er ist in logo- und ergotherapeutischer Behandlung und reagierte sehr verstört auf die Verhörsituation.

Zozans Anwalt Tim Engels sagt dazu: „Wer Scheidungsauseinandersetzungen kennt, weiß, wie belastend und schmerzhaft es gerade für kleine Kinder ist, vor Gericht gezwungen zu werden, gegen die eigenen Eltern oder einen Elternteil aussagen zu müssen. Dieses Verfahren erinnert jeden, der davon hört, an sogenannte ‚Fürsorgemaßnahmen‘ - der Begriff war ja schon immer beschönigend - gegen den politischen Gegner im Nazifaschismus.“

Vollkommen unverständlich, warum sich Richterin Bertante so in das Verfahren hereinhängt, hat das Jugendamt doch inzwischen dargelegt, dass keinerlei Kindeswohlgefährdung vorliegt. „Wir wissen nicht, wer hinter dem Verfahren steht, das Jugendamt sieht jetzt keinen Handlungsbedarf mehr, aber mein Anwalt bekommt immer noch keine Akteneinsicht“, so Zozan. Immer noch wird gegen Zozan ermittelt, sie wird auf der Autobahn verfolgt, durch Kontrollen eingeschüchtert.

Zozan kein Einzelfall

Der Fall von Zozan ist kein Einzelfall. Offensichtlich ist es Menschen unter 18 Jahren nicht gestattet, eine eigene Meinung kundzutun, schon gar nicht, wenn es um die kurdische Frage und Kritik am Erdogan-Regime geht. Die heute 26-jährige Rojbîn G. aus Mainz berichtet, dass ihre Familie über Jahre vom Staatschutz drangsaliert wurde. Weil sie, seitdem sie 16 Jahre alt war, für die kurdische Bewegung aktiv war, wollte man sie aus der Familie nehmen. „Erst als meine Mutter einen Nervenzusammenbruch hatte und in die Psychiatrie eingeliefert werden musste und ich selbst 18 wurde, hat es etwas nachgelassen. Aber dann ging es mit den jüngeren Kindern weiter“, erzählt Rojbîn.

Staatsschutz und Jugendamt arbeiteten wie in Oberhausen Hand in Hand. „Mein Bruder wurde auf dem Fußballplatz vom Staatsschutz angesprochen. Meine Mutter ist bis heute in Behandlung. Sie bekommt häufig Panikattacken. Der Staatsschutz sucht den Schwachpunkt der kurdischen Aktivistinnen und das sind ihre Kinder. Mit Sicherheit werden hunderte Familien auf diese Weise eingeschüchtert, damit sie nicht politisch aktiv bleiben“, so Rojbîn.

Politische Kinder und Jugendliche

Es wird Kindern und Jugendlichen nicht zugestanden, eine eigene politische Meinung zu haben und diese auch kundzutun. Dabei wird auch übersehen, dass Kinder und Jugendliche aus Kurdistan und anderen Kriegsgebieten von klein auf mit den Thematiken Krieg und Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sind. In fast jeder kurdischen Familie gibt es Gefallene und Verwandte oder Bekannte im Gefängnis. So war auch ein enger Freund der Familie von Zozan im Hungerstreik, ihre Tochter L. war also persönlich betroffen.

Von der Realität in Kurdistan kann man Kinder nicht fernhalten. Was das Verschweigen von Verbrechen bewirkt, ist insbesondere in Deutschland bekannt. Die kurdische Gesellschaft ist eine politisierte Gesellschaft und gerade das ist dem deutschen Staat offensichtlich ein Dorn im Auge.

Wir sind alle Zozan

Es sind Frauen, Mütter, die über die Drohung des Kindesentzuges willfährig gemacht werden sollen. Der Staatsschutz übt immer wieder enormen Druck auf kurdische Familien aus, sei es über das Anwerben von Spitzeln, die Drohung des Entzuges der Aufenthaltsberechtigung oder wie bei Zozan und der Mutter von Rojbîn die Drohung des Kindesentzuges.

Im Fall von Zozan handelt es sich um einen Präzedenzfall. Sollten der Staatschutz und die Jugendrichterin mit dem Kindesentzug durchkommen, könnte dies ein Drohszenario für alle politisch aktiven Mütter sein. Diese Art von Repression ist bisher noch nicht einmal dem türkischen Staat eingefallen. „Wir sind aus Kurdistan geflohen, weil die Repression des türkischen Staates zu groß war, mein Vater war jahrelang im Gefängnis. Es ist unerträglich, dass man uns auch hier mit Repression überzieht, weil wir uns organisieren und uns für unsere Rechte einsetzen“, sagt Rojbîn.

Die Repression wird mit dem unsäglichen PKK-Verbot begründet, ein Zugeständnis an den türkischen Staat. Am 15. November 2018 entschied der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, dass die PKK von 2014 bis 2017 zu Unrecht auf der EU-Terrorliste geführt wurde. Konkreten Einfluss auf die legale Situation der PKK hatte das Urteil aber wenig.

In Oberhausen hat sich inzwischen eine Initiative gegründet, die Zozan im Kampf gegen das Jugendamt und den Staatsschutz unterstützen will.

In dem Aufruf heißt es: „Wir weisen empört den Versuch des Staatsschutzes zurück, eine Mutter an einem politischen Engagement für Menschenrechte, Frauenrechte und für Rojava zu hindern. Der Staatsschutz will Zozan zum Schweigen bringen. Das wird nicht gelingen!“

Die Initiative ruft zu einer Kundgebung am nächsten Prozesstag am 22. Januar um 8.30 Uhr auf dem Friedensplatz in Oberhausen auf.