Sırrı Süreyya Önder war vieles: ein unerschrockener Vermittler in Friedensprozessen, ein Brückenbauer zwischen Völkern und politischen Lagern, ein wortgewandter Intellektueller mit Sinn für Humor – und nicht zuletzt ein entschiedener Verfechter eines demokratischen und gerechten Zusammenlebens in der Türkei. Mit seinem Tod verliert das Land eine der glaubwürdigsten und mutigsten Stimmen seiner jüngeren Geschichte.
Ein Vermittler zwischen Fronten
Als Abgeordneter der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM, früher HDP) und langjähriges Mitglied der Imrali-Delegation gehörte Önder zu den profiliertesten Persönlichkeiten der Politik in der Türkei. In den Jahren 2013 bis 2015 war er maßgeblich an den Gesprächen mit dem PKK-Begründer Abdullah Öcalan beteiligt – eine Zeit, die als bislang ernsthaftester Versuch eines Friedensprozesses zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bewegung gilt.
Seine klare Überzeugung: „Der Frieden wird eines Tages kommen. Und bis zu diesem Tag werden wir nicht aufhören, für ihn zu kämpfen.“
Önder kämpft für den Istanbuler Gezi-Park 2013 © HDP
Herkunft, Prägung, Haltung
Geboren 1962 in Semsûr (tr. Adıyaman), einer mehrheitlich kurdischen Region, wuchs Önder in einer turkmenischen Familie auf. Die politischen Kontraste seiner Herkunft – ein sozialistischer Vater, der Mitbegründer des Ortsverbands der Arbeiterpartei der Türkei (TIP) war, eine Mutter aus dem religiösen Nurcu-Milieu – prägten seine Weltsicht.
„Ich habe beide Welten kennengelernt, den Islam studiert – und mich am Ende für den Sozialismus entschieden“, sagte er später.
Mit 16 protestierte Önder gegen das Pogrom von Maraş, wurde erstmals verhaftet, später an der Fakultät für Politikwissenschaft in Ankara immatrikuliert. Nach dem Militärputsch von 1980 wurde er erneut inhaftiert und saß sieben Jahre in verschiedenen Gefängnissen, wo er Folter und Hungerstreiks überstand.
Von der Zelle zum Filmset
Nach seiner Entlassung schlug Önder kreative Wege ein: Er arbeitete zunächst als Lkw-Fahrer, später als Drehbuchautor. Sein filmisches Debüt gab er mit „Beynelmilel“ (2006), einer Tragikomödie über Musik, Militär und Widerstand. Der Film wurde vielfach ausgezeichnet und machte Önder auch außerhalb der linken Szene bekannt.
In den folgenden Jahren war er als Autor, Regisseur oder Schauspieler an mehreren Produktionen beteiligt – darunter „O… Çocukları“ und „Düğün Dernek“. Doch seine Rückkehr in die Politik ließ nicht lange auf sich warten.
Önder protestiert im türkischen Parlament gegen die Verhaftung der damaligen HDP-Vorsitzenden und weiteren Parteimitgliedern, Dezember 2016 © HDP
Parlamentarier, Vermittler, Friedensbotschafter
2011 wurde Önder für die BDP ins türkische Parlament gewählt, später gehörte er zu den Mitbegründern der HDP. Seine Rolle in der Imrali-Delegation war von entscheidender Bedeutung: Er übermittelte Öcalans Friedensbotschaften, verlas dessen berühmten „Schluss mit den Waffen“-Appell beim Newroz-Fest 2013 in Amed (Diyarbakır) und war Sprecher bei der Verlesung des Dolmabahçe-Abkommens – dem bis dahin konkretesten Vorschlag für eine politische Lösung der kurdischen Frage.
Auch bei den Gezi-Protesten 2013 stellte er sich schützend vor Bäume und Menschen. Sein Satz „Ich bin auch Abgeordneter der Bäume“ wurde zu einem Symbol des zivilen Ungehorsams.
Haft, Rückkehr, Beharrlichkeit
Nach dem Scheitern des Friedensprozesses, der Aufhebung seiner Immunität und der Repression gegen die HDP wurde Önder 2018 verhaftet und in Kandıra inhaftiert. Bei seiner Verlegung ins Gefängnis sagte er: „Was wir gesagt haben, wofür wir gekämpft haben – das ist unsere Ehre.“
2019 wurde er nach einem Urteil des Verfassungsgerichts freigelassen, das seine Verurteilung als Verletzung der Meinungsfreiheit einstufte. Doch Önder blieb wachsam: „Ich bin zwar draußen, aber ein Teil von uns bleibt drinnen. Wirklich feiern kann ich erst, wenn Frieden und Demokratie Realität werden.“
Letzte Jahre, letzte Botschaften
Trotz gesundheitlicher Probleme kandidierte Önder 2023 erneut und wurde für die DEM-Partei in Istanbul ins Parlament gewählt. Auch in den zarten Anfängen eines neuen Dialogs mit Öcalan war er wieder Teil der Imrali-Delegation – ein Zeichen seines ungebrochenen Einsatzes für den Frieden. „Frieden ist die beste Therapie“, entgegnete er seinem Ärzteteam, das ihm dringend zur Ruhe riet.
Am 15. April 2025 erlitt er einen schweren Aorteneinriss und wurde in Istanbul notoperiert. Trotz intensivmedizinischer Behandlung verstarb er 18 Tage später, am 3. Mai.
Önder bei einem „Nein“-Protest in Istanbul: Die HDP rief während des Verfassungsreferendums vom 16. April 2017 zum „Nein“ auf. Sie boykottierte das Referendum, nachdem elf Abgeordnete unter Terrorismusanklage inhaftiert wurden © HDP
Abschied mit Würde
Noch während seiner Zeit im künstlichen Koma erreichte ihn eine Botschaft von Abdullah Öcalan, überbracht durch Pervin Buldan und Rechtsanwalt Özgür Erol. Darin hieß es: „Sırrı Süreyya Önder ist jemand, der Vorurteile überwindet – im Parlament, auf der Straße, in der Gesellschaft. In seiner Person lebt das kulturelle Erbe Anatoliens, das Vermächtnis von Baba Ishak, das wahre Wesen des Turkmenentums – nämlich eine Identität des Friedens. Die wahre Verbundenheit zu ihm zeigt sich darin, seine Friedensarbeit weiterzuführen.“
Ein bleibendes Vermächtnis
Sırrı Süreyya Önder wird als Stimme, Gedächtnis und Gewissen des kurdischen Volkes in Erinnerung bleiben. Als einer, der mit Sprache Brücken baute, der für Verständigung eintrat, wo andere Fronten zogen – und der selbst in dunklen Zeiten an ein gerechtes Miteinander glaubte.
Er war ein Dichter mit Haltung, ein Politiker mit Rückgrat, ein Mensch mit Tiefe. Sein Platz in der Geschichte – und in den Herzen vieler – ist ihm gewiss.
Titelfoto: Sırrı Süreyya Önder bei der Pressekonferenz am 27. Februar 2025 in Istanbul nach Verlesung des Aufrufs von Abdullah Öcalan für Frieden und eine demokratische Gesellschaft © Bilal Seçkin