Türkei bedroht kurdische Bevölkerung
Mit dem Sturz des 61 Jahre herrschenden Assad-Regimes durch die Islamistengruppe HTS veränderten sich die Machtbalancen in Syrien tiefgreifend. Der türkische Staat versucht die Gelegenheit zu nutzen, um die Demokratische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien (DAANES) zu vernichten. Das erste Land, das mit der HTS offiziell Kontakt aufnahm, war die Türkei. Ibrahim Kalın, Leiter des türkischen Geheimdienstes MIT, und Außenminister Hakan Fidan trafen am 22. Dezember in Damaskus den HTS-Anführer Muhammad al-Dscholani, der inwzischen wieder unter seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Scharaa auftritt.
Ankara versucht Gespräche mit Selbstverwaltung zu verhindern
Der kurdische Politiker Salih Muslim, Vorstandsmitglied der Partei der demokratischen Einheit (PYD), erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) zu dem Treffen: „Wir wissen nicht genau, was bei den Gesprächen der Türkei mit Damaskus besprochen wurde. Es scheint jedoch, dass die Türkei die Botschaft vermittelt: ‚Setzt euch nicht mit den Kurden zusammen und nehmt keine Beziehungen zur Selbstverwaltung auf.‘ Die Zerstörung der kurdischen Errungenschaften steht im Mittelpunkt ihrer gesamten Politik.“
„Die Türkei will Syrien kontrollieren“
Auch wenn die Türkei davon rede, dass sie Frieden in Syrien wolle, sei ihre Ernsthaftigkeit grundsätzlich infrage zustellen, erklärte Muslim und fuhr fort: „Die Türkei sagt, sie wolle ein Syrien ohne Terror. Ihre Definition von ‚terroristisch‘ umfasst jedoch auch das kurdische Volk und die Kräfte der Selbstverwaltung, die friedlich in der Region existieren. Sie bezeichnet die YPG und die QSD schamlos als Terroristen und greift unter diesem Vorwand Syrien an. Das ist absolut inakzeptabel. Die türkische Politik ähnelt derjenigen Frankreichs zur Mandatszeit in Syrien. Heute will die Türkei Syrien mit aller Gewalt unter ihre Kontrolle bringen. Das ist aber weder für die Völker noch für die Zukunft Syriens hinnehmbar.“
„Die QSD wurden geschaffen, um das Volk zu verteidigen“
Muslim erinnerte daran, dass die YPG, YPJ und QSD nicht nur die Kurd:innen verteidigen, und fuhr fort: „Die QSD, YPG und YPJ sind nach 2011 als Folge der Angriffe auf unser Volk und unsere Errungenschaften entstanden. Wir haben uns organisiert, um uns auf unserem eigenen Grund und Boden zu verteidigen. Wenn man will, dass wir heute die Waffen niederlegen, ist das nur möglich, wenn die Bedrohungen beseitigt werden. Wenn die Angriffe auf unser Volk aufhören und entsprechende Zusicherungen gegeben werden, besteht kein Bedarf mehr an Waffen. Aber im Moment sind wir noch immer bedroht, und deshalb können wir unsere Verteidigung nicht aufgeben. Die Bedrohung der Sicherheit des kurdischen Volkes und auch die der arabischen, assyrischen, turkmenischen und aller anderen Bevölkerungsgruppen in der Region muss aufhören. Solange sich unsere Errungenschaften im Visier befinden, haben wir ein natürliches Recht, uns zu verteidigen.“
„Bisher kein direkter Kampf zwischen HTS und QSD“
Bisher habe es keine direkten Auseinandersetzungen zwischen QSD und HTS gegeben, sagte Muslim: „Sie haben mitgeteilt, dass sie die Kurden nicht angreifen würden. Bisher haben sie dieses Versprechen auch gehalten. Auf der anderen Seite greifen uns die von der Türkei kontrollierten Gruppen ständig an. Laut den jüngsten Erklärungen der HTS sollen alle bewaffneten Kräfte in Syrien zusammengeschlossen werden. Wir lehnen das nicht völlig ab. Wir wollen auch nicht, dass Syrien zerfällt. Es ist jedoch nur möglich, wenn die Bedrohung unseres Volkes aufhört. Dscholani ist auch gegen die Präsenz türkisch geführter Gruppen und will sie auflösen. Wir können uns mit Dscholani einigen, wenn die Türkei ihre Finger von Syrien nimmt und ihre Spaltungsversuche einstellt.“
Diplomatie mit dem ENKS
Der Kurdische Nationalrat (ENKS) agierte bisher als Fortsatz des türkischen Geheimdienstes MIT. Dennoch ist Muslim auch hier um Gespräche bemüht: „Wir haben uns immer für die Einheit der Kurdinnen und Kurden eingesetzt. Nur so können wir unsere Ziele erreichen und unsere Forderungen durchsetzen. Wir führen derzeit Gespräche mit dem ENKS. Der ENKS geht im Einklang mit der Türkei vor und lehnt uns ab. Es gab Treffen mit der Koalition und Mazlum Abdi, bei denen der ENKS und seine Forderungen vorgetragen hat. Wir planen, in der nächsten Zeit auch Gespräche mit anderen kurdischen Parteien zu führen. Unser Ziel ist es, in Damaskus mit einer Stimme zu sprechen. Wir wollen die Probleme mit der neuen syrischen Regierung lösen. Auch wir sind ein Teil Syriens und wollen in den Lösungsprozess einbezogen werden. Wir können gemeinsam Gesetze machen und alles auf eine formale Grundlage stellen. Die Lösung der Probleme im Dialog ist der beste Weg für uns alle.“