Ein Weiser unserer Zeit: Immanuel Wallerstein

Über mehrere Jahrzehnte stand Immanuel Wallerstein unverbrüchlich an der Seite der Unterdrückten in aller Welt. Er wurde auch in Kurdistan viel gelesen, schreibt die Internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan“ in einem Nachruf.

Im Alter von 88 Jahren ist der postmarxistische Soziologe, Sozialwissenschaftler und Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein gestorben. Die Internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan“ geht in einem Nachruf auf die Bedeutung Wallersteins für die kurdische Freiheitsbewegung ein:

In Memoriam

Mit tiefer Trauer erfüllt uns die Nachricht vom Tod Immanuel Wallersteins. Sein Verlust ist ein schwerer Verlust für uns alle. Was Wallerstein von anderen Soziologen unterschied, war seine viel fundiertere Analyse darüber, wie man aus dem Weltsystem ausbrechen kann.

In diesem Sinne haben sowohl Fernand Braudels Analyse der Weltgeschichte mithilfe verschiedener Zeitebenen und besonders der longue durée als auch Wallerstein durch seine Weltsystemanalyse enorm dazu beigetragen, dass Abdullah Öcalan und die kurdische Freiheitsbewegung die Niederlage des Realsozialismus besser analysieren konnten. Darüber hinaus zeigt sich ihr Einfluss am besten in Öcalans Wahl der Analyseeinheit für die historische Gesellschaft: die moralisch-politische Gesellschaft.

Über mehrere Jahrzehnte stand Immanuel Wallerstein unverbrüchlich an der Seite der Unterdrückten in aller Welt. Er wurde in Kurdistan viel gelesen, und viele der von ihm entwickelten Konzepte erwiesen sich als einflussreich für das Denken freiheitsliebender Menschen in Mittleren Osten. Hervorzuheben ist Abdullah Öcalan, der zahlreiche Bücher Immanuel Wallersteins studierte und ihn als wesentlichen Einfluss zitiert. Nachdem er Band I und II von Wallersteins Opus magnum Das moderne Weltsystem gelesen hatte, fragte er seine Verteidiger*innen mehrfach, wann Band III endlich auf Türkisch erscheine (2011 war es soweit). Er erkundigte sich sogar nach Möglichkeiten, die Herausgabe zu beschleunigen.

Wallersteins immer wiederkehrende Betonung der Möglichkeit und Bedeutung politischer Intervention gerade in der aktuellen Chaosphase (Utopistik) ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Öcalans Gefängnisschriften. Wallersteins Kritik am aktuellen Stand der Sozialwissenschaften (Die Sozialwissenschaft »kaputtdenken«) und die Vorschläge der von ihm geleiteten Gulbenkian-Kommission (Die Sozialwissenschaften öffnen) finden ihr Echo in Öcalans Suche nach einem neuen Paradigma und seinem Vorschlag für ein Akademiesystem.

Öcalan lobt Wallerstein in seinen Gefängnisschriften dafür, dass dieser sich weitgehend vom starren Determinismus lösen konnte. Ein Beispiel ist seine Botschaft, die er 2012 an die Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern« in Hamburg richtete, wo er erklärte, dass »Es … eine beschwingende Phase [ist], in der jeder kleinste Beitrag eines Individuums oder einer Gruppe von Bedeutung ist und das Ergebnis unseres Kampfes beeinflussen kann, in dem es darum geht, dieses System durch ein humaneres zu ersetzen.«

Wallerstein besaß nicht nur größte Kompetenz bei der Analyse der Methoden und Wissenssysteme, die zur ›offiziellen Moderne geführt hatten‹, er stand auch an der Seite derer, die schutzlos waren und kämpften. So unterstützte er 2014 die Forderung nach der Freilassung schwerstkranker Gefangener in der Türkei, forderte Freiheit für Abdullah Öcalan und die politischen Gefangenen in der Türkei und diskutierte Lösungsmöglichkeiten für die kurdische Frage in seinem Vorwort zu Abdullah Öcalans Roadmap für Verhandlungen.

»Immanuel Wallerstein hat dabei einen sehr positiven und radikalen Ansatz«, schreibt Öcalan, »er glaubt an keinerlei Lösung innerhalb des Systems. Er wiederholt unermüdlich, dass die gegenwärtige Krise eine systemische und strukturelle sei und schlägt vor, dass wir uns intensiv den intellektuellen, moralischen und politischen Aufgaben widmen, die er ganz richtig definiert. […] Er weist auf Dinge wie die starke Abhängigkeit des intellektuellen Kapitals von der kapitalistischen Moderne und die Notwendigkeit eines radikalen Bruchs hin, aus denen wir eine Reihe von Schlussfolgerungen ziehen sollten.« Wallerstein nahm sich selbst nicht aus, als er seine Botschaft an unsere Konferenz mit den Worten schloss: »[W]enn wir einmal unsere moralische Entscheidung getroffen haben, müssen wir die politische Strategie bestimmen, die am meisten dazu beiträgt, dass wir unser Ziel erreichen. Ich persönlich denke, dass dafür eine sehr weitreichende Koalition der gesamten Linken auf der Welt erforderlich ist.«

Der Freiheitskampf der kurdischen Frauen und des kurdischen Volkes breitet sich aus. Es hat das Ziel, eine demokratische, ökologische und von der Freiheit der Frau geprägte Gesellschaft aufzubauen: das System der demokratischen Zivilisation ist ihre Option für einen Weg aus dem Chaos. Immanuel Wallerstein wird am besten in unserem Erfolg bei drei miteinander verknüpften Aufgaben geehrt – wie er es ausdrückte: »Ich wünsche uns Glück für alle drei miteinander verknüpften Aufgaben: für die analytische Integrität, die moralische Entscheidung und die effektive politische Strategie.«

Die Welt kannte ihn als einen großen Denker. Zu Hause war er sehr freundlich zu seinen Gästen, fürsorglich und bescheiden. Wir haben einen wahren Weisen des 21. Jahrhunderts verloren.