Seit vier Tagen läuft eine ununterbrochene Angriffswelle der türkischen Armee auf Rojava. Dabei werden Kampfbomber, Artillerie und Drohnen eingesetzt. Die Angriffe zielen nicht nur auf die Verteidigungskräfte, sondern vor allem auf die zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Schulen und die Versorgung mit Wasser, Strom und Gas. Im ANF-Interview äußert sich die stellvertretende Ko-Vorsitzende der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES), Emine Osê, zu den Angriffen und den Erwartungen der Selbstverwaltung.
Seit dem 19. November findet eine intensive türkische Angriffswelle auf Nord- und Ostsyrien statt. Was steckt dahinter?
Der türkische Staat hat sich seit einem Jahr auf diesen Krieg vorbereitet. Um die Region zu destabilisieren und die Menschen daran zu hindern, ihr Leben selbst zu organisieren, und um einen ständigen Zustand der Krise und des Chaos zu schaffen, greift der türkische Staat Nord- und Ostsyrien bereits seit langer Zeit an. Die ganze Welt weiß, wenn irgendwo Luftangriffe durchführt werden, ist das Ziel, zu töten und die Menschen zu vertreiben. Danach kommt die Besatzung und wenn es einen Plan zur Veränderung der demografischen Struktur gibt, wird er dann umgesetzt. Genau daran orientiert sich die Planung des türkischen Staates. Er hat vor der ganzen Welt erklärt, dass er die Bevölkerungsstruktur der Region verändern werde. Um das zu erreichen, wird er natürlich erst einmal angreifen, massakrieren und vertreiben, und dann sollen die Angriffe unter dem Vorwand legitimiert werden, dass man ja eine Million Flüchtlinge aus Syrien, die in der Türkei sind, dort ansiedle. Auf diese Weise wird die türkische Öffentlichkeit überzeugt, dass so das Problem mit der Migration gelöst werde. Das käme dann auch den anderen Staaten zugute, da diese Situation immer wieder von der Türkei gegen sie verwendet wurde.
„Ohne Unterstützung hätte der türkische Staat nicht angegriffen“
Die am 19. November gestartete Angriffswelle hängt also nicht nur mit dem türkischen Staat zusammen. Wenn der türkische Staat nicht grünes Licht bekommen hätte, hätte er es nicht gewagt, einen solchen Angriff gegen die Infrastruktur und das gesamte gesellschaftliche Leben durchzuführen. In diesem Sinne zielen diese Angriffe nicht nur auf militärische Ressourcen und die Verteidigungskräfte ab. Sie richten sich gegen die Gesellschaft und die Quellen des Lebens, die die Gesellschaft erhalten. Daher werden Krankenhäuser, Getreidelager, Wohnhäuser und Kraftwerke ins Visier genommen. Diese Angriffe dauern bis heute an und es hat sich herausgestellt, dass alle Einrichtungen der Selbstverwaltung, der Verteidigungskräfte und der Sicherheitskräfte Ziele sind. Aufgrund dieser Situation werden Tausende von Menschen ihre Dörfer und Häuser mitten im Winter verlassen müssen.
In den Lagern in Nord- und Ostsyrien, in denen sich Tausende von IS-Familien aufhalten, geht es darum, den IS-Angehörigen Raum zum Agieren zu geben und damit dem IS Luft zu verschaffen. Außerdem gibt es Gefängnisse, in denen Tausende von IS-Söldnern festgehalten werden. Jeder Angriff des türkischen Staates stärkt den IS.
„Unsere Erwartungen richten sich nicht an die internationalen Mächte“
In der Region gibt es Kräfte wie Russland und die internationale Koalition. Bislang haben diese Mächte nicht ernsthaft auf die Angriffe reagiert. Wie interpretieren Sie das?
Das Schweigen der internationalen Mächte zu diesen Angriffen zeigt, dass es eine Zusammenarbeit und ein Abkommen zwischen ihnen gibt. Es wird davon ausgegangen, dass sie sich darauf geeinigt haben, das Projekt der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien aufzulösen. Die größte Gefahr besteht darin, dass das in Nordostsyrien verwirklichte demokratische Projekt liquidiert und damit die syrische Krise verschärft wird, die Völker Syriens werden dadurch erneut in ein großes Chaos gestürzt. Wer wird von diesem Chaos am meisten profitieren? Natürlich der türkische Staat, der in dem demokratischen Projekt eine große Gefahr für sich selbst sieht, und Russland, das die Regierung in Damaskus im alten Stil wieder an die Macht bringen will, sowie die internationale Koalition, die bis heute allein im Sinne ihrer eigenen Interessen agiert und zu allen Angriffen geschwiegen hat. Die schwachen Reaktionen der internationalen Koalition reichen in keiner Weise aus, um diese Angriffe zu stoppen. Man spricht über die Gefahren der Angriffe, aber niemand spricht darüber, wie diese Angriffe gestoppt werden sollen. In diesem Sinne spreche ich nicht die internationalen Mächte an, sondern die internationale Gesellschaft. Sie sollte Rojava heute genauso unterstützen, wie sie Rojava während des IS-Angriffs unterstützt und im Kampf um Kobanê geholfen hat.
Bei den Angriffen wurden auch viele Einrichtungen der Regierung in Damaskus getroffen. Aber es scheint, als ob die Regierung in Damaskus ihre Soldaten im Stich gelassen hat. Sie verhält sich in keinerlei Weise dazu. Diese Angriffe richten sich jedoch auch gegen die Integrität Syriens. Ein Staat, der 24 Stunden am Tag von seiner Souveränität schwadroniert, schweigt zu allen Angriffen. Dutzende von Soldaten wurden getötet, aber die Regierung schweigt. Es hätte einen Aufschrei geben müssen. All dies zeigt, dass es auch hier eine Zusammenarbeit gibt.
Das Ziel besteht darin, nach der Auflösung der Selbstverwaltung die Herrschaft des Regimes wiederherzustellen. Damaskus glaubt, dies mit Hilfe Russlands tun zu können. Wenn das geglaubt wird, dann liegt eine sehr ernste Selbsttäuschung vor. Diejenigen, die die Geschichte des türkischen Staates nicht kennen, könnten einem solchen Missverständnis unterliegen. Der türkische Staat betrachtet jeden Ort, an den er seine Truppen schickt, als seinen eigenen. Er plant für hundert Jahre und kalkuliert bei jeder Gelegenheit, wie er dieses Land besetzen kann. Aber auch am Jahrestag des Abkommens von Lausanne gilt: Je mehr Erdoğan seine Aktivitäten in dieser Region ausweitet, desto mehr investiert er damit in seine Zukunft. Das Kalkül des türkischen Staates ist die Besetzung von Krisenregionen wie dem Irak und Syrien. Das will er als Erfolg bei der Hundertjahrfeier von Lausanne präsentieren. Zu diesem Zweck hat der türkische Staat Şengal, Mexmûr, den Irak und alle Berge Kurdistans auf barbarische Weise angegriffen, und heute greift er Rojava an.
In den kommenden Tagen wird es ein weiteres Treffen in Astana geben. Iran, Türkei Staat und Russland befinden sich nun in leicht unterschiedlichen Positionen. Im Iran gibt es einen großen Volksaufstand, während Russland und der türkische Staat andere Interessen verfolgen. Wie interpretieren Sie diese Situation?
Keines der Treffen in Genf, Astana und Sotschi brachte ein einziges demokratisches Modell für eine Lösung der elfjährigen Krise in Syrien hervor. Es waren sinnlose Sitzungen. Warum waren sie sinnlos? Die wirklichen Vertreter:innen der Gesellschaft nahmen an diesen Treffen nicht teil. Der türkische Staat hat sich dem jedes Mal widersetzt. Anstatt eine Lösung für die Syrien-Krise zu finden, geht es bei diesen Treffen darum, die jeweiligen Interessen zu schützen. Der türkische Staat will diese Mächte zu seinen Partnern machen, um seine Invasionsangriffe zu legitimieren. Der Iran hat große Angst vor der Situation, in der er sich gerade befindet, und Russland wird von diesen Mächten unterstützt. Diese Staaten sind die regionalen Unterstützer Russlands im Nahen Osten. Deshalb sind diese Gespräche gefährlich. Sie werden dieselben Dinge auf dem bevorstehenden Treffen in Astana besprechen. Statt einer Lösung werden sie darüber diskutieren, wie man sowohl die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien als auch die Volksaufstände in Iran und Rojhilat (Ostkurdistan) unterdrücken kann.
„Das wichtige ist, dass sich die Völker erheben“
Was können Sie über die Haltung der Menschen in Nord- und Ostsyrien und insbesondere der Kurd:innen sagen?
Natürlich ist die Einheit der Völker Nord- und Ostsyriens sehr wichtig. In diesem Prozess ist es auch sehr wichtig, dass sie ihren eigenen Verteidigungskräften zur Seite stehen und sie unterstützen. Unser Volk hat seine Botschaft tatsächlich übermittelt. Gäbe es jedoch Gesetze und Menschenrechte, hätte die ganze Welt die Botschaft unseres Volkes verstanden. Dieses Volk sagt: „Wie auch immer die Angriffe sein mögen, wir werden auf unserem Land bleiben, wir werden uns verteidigen und weiter Widerstand leisten.“ So wird sich eine ganze Gesellschaft gegen die Invasion stellen, nicht nur eine militärische Kraft. Natürlich werden die Verteidigungskräfte ihre Aufgaben erfüllen. Aber der türkische Staat wird es mit der gesamten Gesellschaft zu tun haben. Wenn der türkische Staat in einen Krieg zieht, der die Konfrontation mit einer Gesellschaft riskiert, dann gibt es sehr ernstzunehmende Abkommen dahinter. Für bestimmte politische Interessen opfern diese Mächte eine ganze Gesellschaft. Die internationalen Mächte haben im Einvernehmen mit dem türkischen Staat die Menschen in Nord- und Ostsyrien ihren eigenen Interessen geopfert. Auf diese Weise legitimieren sie diesen Krieg. Wichtig ist dabei, dass sowohl die Völker Nord- und Ostsyriens und die Selbstverwaltung mit ihren Verteidigungskräften und Institutionen als auch die Völker der Welt zusammenstehen und aufmerksam sind. Denn nach jedem Luftangriff gibt es immer einen Plan für einen Bodenangriff. Wir haben Vertrauen in unser Volk. Mit den Protesten, die es in den letzten Tagen gegeben hat, zeigt sich, dass es sich dem Feind noch stärker entgegenstellen wird.