Wo ist der Staat? Eine falsche Frage.

Immer noch warten nach dem verheerenden Erdbeben Verschüttete unter Tonnen von Beton auf Hilfe. Immer noch harren Hunderttausende bei Regen und Schnee im Freien aus. Immer noch werden Verwundete nicht versorgt. Stündlich steigt die Zahl der Toten.

Clips in den sozialen Medien zeugen von der allgegenwärtigen Verzweiflung im Erdbebengebiet in der Türkei. Viele Menschen beklagen, dass keine Hilfe kommt und fragen unter dem Hashtag #devletnerede Wo ist der Staat?

Nun, dieser Staat hat anderes zu tun. Zum Beispiel bombardierte er keine 24 Stunden nach dem Erdbeben die Stadt Tel Rifat in der Autonomieregion Nordsyrien. Die zweitgrößte Armee der NATO verfügt zwar über sehr viele Helikopter und Armeefahrzeuge, doch sie werden anderweitig gebraucht. Ihre Zweckbestimmung ist der Krieg gegen Kurd:innen. Nothilfe für die Bevölkerung ist nicht vorgesehen. Diese obliegt der allein dafür zuständigen und dem Innenministerium unterstellten Behörde für Katastrophen- und Notfallmanagement (AFAD). Diese Behörde ist auch jetzt tätig. Allerdings ist sie völlig überfordert. Das liegt zum Teil an Unterfinanzierung, da die seit 1999 erhobene „Erdbebensteuer“ wohl zweckentfremdet wurde für den Krieg in Kurdistan, der dem türkischen Staat viel Geld kostet. So fehlen für den Erdbebenschutz vorgesehene Mittel. Zudem verfestigt sich der Eindruck, dass der staatliche Katastrophenschutz die mehrheitlich von Kurd:innen bewohnten Städte und Dörfer bewusst ausspart. Der staatliche anti-kurdische Rassismus steuert auch hier die Verteilung der Hilfsgüter.

Dieser Staat, nach dem jetzt gerufen wird, hat sich und die für ihn arbeitenden Politiker in Jahrzehnten der Bodenspekulation und Plünderung bereichert. In einem der erdbebengefährdetsten Gebieten der Welt wird billiges Baumaterial verwendet, und auf dem Papier vorgesehene Kontrollen finden kaum statt. Korruption war und ist an der Tagesordnung.

Dieser Staat ist sehr gut darin, wenn es darum geht, Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben. Dieser Staat reagiert auf jedes Ansinnen einer Selbstorganisierung mit Einschüchterung und Gewalt und setzt Kommunen unter Zwangsverwaltung, wenn sie wagen, durch den Aufbau eigener Strukturen für das Gemeinwohl zu sorgen. Das Interesse dieses Staates gilt allein dem eigenen Machterhalt.

Wer heute in dieser Notsituation nach dem Staat ruft, sollte sein Verständnis vom Konzept des Nationalstaats überdenken und der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) zuhören, die empfiehlt: „Ohne auf den Staat zu warten, sollte unser Volk alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen und versuchen, seine Wunden selbst zu heilen“.

Statt sich also auf staatliche Hilfe zu verlassen gilt heute mehr denn je, eigene demokratische Strukturen von unten zu organisieren. Das war schon immer die Stärke der kurdischen Freiheitsbewegung. „Das Prinzip der demokratischen Lösung ist nicht ein Modell, das auf den Staat abzielt, sondern auf der Demokratisierung der Zivilgesellschaft beruht.“ [Abdullah Öcalan]. Deshalb wurde mittlerweile begonnen, überall in der Diaspora Krisenstäbe zu bilden, Hilfe zu organisieren und über Heyva Sor A Kurdistanê Spenden für die Erdbebenopfer einzusammeln. Es geht heute darum, alle zivilen Kräfte zu mobilisieren und der eigenen Kraft zu vertrauen. Im Gegensatz zum maroden türkischen Staat ist die PKK-Bewegung stark und entschlossen. Und sie hat viele internationale Freundinnen und Freunde.