Civaka Azad: „Nach den Wahlen ist vor dem Krieg“

Im aktuellen Newsletter von Civaka Azad geht das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit auf die aktuellen Entwicklungen nach den Kommunalwahlen in der Türkei und auf die Eskalation des Krieges in Kurdistan ein.

Civaka Azad Newsletter

In seinem neuen Newsletter erläutert Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit die aktuellen Entwicklungen in der Türkei und der gesamten Region:

Drei Wochen sind seit den Kommunalwahlen in der Türkei vergangen. Diese Wahlen stellen in vielerlei Hinsicht einen wichtigen Wendepunkt in der jüngeren Geschichte der Türkei dar. Erstens ist die AKP-Regierung zum ersten Mal seit ihrem ersten Erfolg 2002 nicht als stärkste Kraft aus einer Wahl hervorgegangen. Sie verlor nicht nur erneut in wichtigen Metropolen wie Istanbul und Ankara, sondern musste sich auch in zahlreichen anderen westtürkischen Großstädten der Republikanischen Volkspartei (CHP) geschlagen geben. Auch in Nordkurdistan musste sich die AKP der DEM-Partei geschlagen geben, und das trotz massiver Repression und Wählerverschiebungen in den kurdischen Provinzen, wo tausende Soldaten und Polizisten wählen durften. Als die Machthaber in Ankara dann noch versuchten, das Wahlergebnis im nordkurdischen Wan zu annullieren, indem sie die Kandidatur des Wahlsiegers der DEM-Partei, Abdullah Zeydan, nachträglich für ungültig erklärten, erlitt die AKP-Regierung eine weitere schwere Niederlage. Die Bevölkerung akzeptierte diesen versuchten Wahlputsch nicht, blieb tagelang auf den Straßen und zwang das Erdoğan-Regime, seine Entscheidung zu revidieren. Ein historischer Moment, der sowohl die Stärke der nordkurdischen Gesellschaft als auch die momentane Verwundbarkeit der AKP zum Ausdruck brachte.

Die aktuellen Entwicklungen in der Türkei und der gesamten Region machen aber auch deutlich, dass der türkische Staatspräsident und seine Machtclique nicht bereit sind, ihr drohendes Ende kampflos hinzunehmen. In Ankara setzt man daher auf ein bewährtes Mittel: die Eskalation des Krieges in Kurdistan.

Die türkische Militärintervention in Südkurdistan und die drohende Gefahr für Rojava

Und so kam es am vergangenen Sonntag zu der von vielen bereits erwarteten Militäroffensive. Die türkische Armee hat eine neue Besatzungsoperation in Südkurdistan (Nordirak) gestartet. Die Operation konzentriert sich derzeit auf die Region Metîna, die direkt hinter der türkischen Grenze liegt. Metîna gehört zu den Medya-Verteidigungsgebieten in der Kurdistan-Region des Irak (KRI), die von den Guerillakräften der PKK [Volksverteidigungskräfte HPG und Verbände freier Frauen, YJA Star] kontrolliert werden.

Das Pressezentrum der HPG erklärte zu der türkischen Operation, dass das Gebiet bereits seit der Nacht zum 16. April von der türkischen Armee bombardiert werde. Türkische Kampfhubschrauber und Kampfflugzeuge seien im Einsatz. „Die Besatzungstruppen wenden in diesen Gebieten eine andere Taktik an: Die Invasion soll nicht auf einmal, sondern Schritt für Schritt ausgeweitet werden“, so die HPG in ihrer ersten Stellungnahme zur türkischen Offensive.

Zuvor hatten die türkischen Soldaten in Südkurdistan immer wieder schwere Rückschläge hinnehmen müssen. Der Guerilla gelang es, bei winterlichen Witterungsbedingungen Stellungen der türkischen Armee zu zerstören und Dutzende Soldaten zu töten. Die HPG berichteten zudem, dass es ihr in den vergangenen Monaten gelungen sei, Dutzende bewaffnete Drohnen der türkischen Armee abzuschießen.

Auch die Selbstverwaltungsgebiete im Norden und Osten Syriens (auch als Rojava bekannt) sind akut von weiteren türkischen Besatzungsoperationen bedroht. Laut Farhad Shami, dem Sprecher der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), plant der türkische Staat, die symbolträchtige Stadt Kobanê noch in diesem Sommer anzugreifen. Allerdings habe Ankara dafür noch kein grünes Licht von den USA und Russland, die den Luftraum über Syrien kontrollieren, erhalten.

Erdoğans zu Besuch in Bagdad und Hewlêr

Aber auch für den bereits begonnenen Krieg in Südkurdistan braucht das Erdoğan-Regime internationale Rückendeckung. Deshalb florieren derzeit die diplomatischen Beziehungen zwischen Ankara und Bagdad. Am 14. März besuchte zunächst eine türkische Delegation unter Führung des Außenministers und ehemaligen Geheimdienstchefs Hakan Fidan Bagdad. Nun folgte der Besuch des türkischen Staatschefs persönlich. Erdoğan besuchte am 22. April zum ersten Mal seit 13 Jahren die Hauptstadt des Nachbarlandes. Bei den Gesprächen mit dem irakischen Ministerpräsidenten Mohammed Shia al-Sudani standen wirtschaftliche Vereinbarungen ebenso auf der Tagesordnung wie „Sicherheitsfragen“. Und tatsächlich sind beide Themen eng miteinander verknüpft. Denn ganz oben auf der Agenda beider Staaten steht das „Iraq Development Road Project“ - ein 17 Milliarden Dollar schweres Infrastrukturprojekt, das den im Bau befindlichen Hafen der irakischen Stadt Basra am Persischen Golf über ein Straßen- und Schienennetz mit der 1200 Kilometer entfernten türkischen Grenze verbinden soll. Das Abkommen wurde zwischen dem Irak, der Türkei, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar unterzeichnet. Um dieses Megaprojekt realisieren zu können, muss nach den Vorstellungen Ankaras zunächst die „PKK-Gefahr“ im irakisch-türkischen Grenzgebiet beseitigt werden. Und tatsächlich scheinen die wirtschaftlichen Anreize einer neuen Handelsroute die bisherigen kritischen Stimmen zu den völkerrechtswidrigen Angriffskriegen der Türkei auf irakischem Staatsgebiet zum Verstummen gebracht zu haben.

Nach seinem Besuch in Bagdad machte der türkische Staatspräsident eine Stippvisite in Hewlêr (Erbil), der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Obwohl die geplante Handelsroute mit Bagdad die kurdische Autonomieregion bewusst umgeht, ist dies für die Barzanî-Familie kein Grund, die Beziehungen zum Erdoğan-Regime in Frage zu stellen. Zu eng sind die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen der kurdischen Autonomieregion und der Türkei, zu sehr hängt das Schicksal der von den Barzanîs geführten Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) vom Schicksal der AKP ab. Deshalb verfolgen die Machthaber in Hewlêr den langsamen Niedergang der AKP mit Sorge, auch weil sie um ihre eigene Zukunft fürchten. Und die PDK ist bereit, alles zu tun, um die Herrschaft des mächtigen Partners in Ankara zu stützen, auch wenn das bedeutet, gegen die eigene Bevölkerung in den Krieg zu ziehen. Genau das geschieht derzeit mit der türkischen Besatzungsoperation in Metîna. Der Kampf der türkischen Armee wird von Peschmerga-Kräften der PDK strategisch flankiert.

Die historische Zitadelle von Hewlêr in den Farben der türkischen Flagge (c) RojNews

Doch in Kurdistan wächst der Unmut über die Zusammenarbeit der PDK mit dem AKP-Regime. Als die PDK am Vorabend von Erdoğans Besuch die historische Zitadelle von Hewlêr in den Farben der türkischen Flagge erstrahlen ließ, brachten unzählige kurdische Aktivist:innen in den sozialen Medien ihre Wut über den „Verrat der Barzanî-Familie“ an der kurdischen Bevölkerung zum Ausdruck.

Die Bevölkerung Südkurdistans ist sich bewusst, dass die Türkei den Kampf gegen die PKK als Rechtfertigung vorschiebt, um die Autonome Region Kurdistan langfristig zu besetzen. Daraus machen selbst türkische Regierungsverantwortliche keinen Hehl. So sprach der türkische Verteidigungsminister Yaşar Güler, der den türkischen Staatspräsidenten auf seiner Irak-Reise begleitete, bereits im März von einem 30 bis 40 Kilometer tiefen Korridor, den man entlang der Grenze errichten wolle.