Gurgum – Geschichte einer nordkurdischen Region IV

Im vierten Teil der Reihe über Gurgum geht es um das aktuelle Katastrophenmanagement der Regierung nach dem Erdbeben vor dem Hintergrund der anti-kurdischen und anti-alevitischen Kontinuität türkischer Herrschaft.

Wie in den ersten drei Teilen der Serie zur Geschichte von Gurgum (Maraş) dargestellt, wurde bereits seit dem Einfall der Seldschuken in der Region über das Osmanische Reich bis zur türkischen Republik eine anti-alevitische und anti-kurdische Politik verfolgt, die auf Widerstand der Bevölkerung stieß. Der türkische Monismus, der das Prinzip „Eine Religion, eine Sprache, eine Identität“ – den sunnitischen Islam, Türkisch, Türkentum – durchzusetzen versucht, führte im vergangenen Jahrhundert zum Genozid an den Armenier:innen und den Massenmorden an Kurd:innen und Alevit:innen.

Am 6. Februar wurden Gurgum und andere Regionen von schweren Erdbeben erschüttert und es scheint nun vielen so, als würde das türkische Regime die Katastrophe nutzen wollen, um die Vernichtung der kurdischen und alevitischen Identität zu vollenden. Hilfe traf in vielen Gebieten in Gurgum, wenn überhaupt, viel zu spät ein. Das Versagen der staatlichen Institutionen bei der Koordinierung der Such- und Rettungsmaßnahmen und der Hilfe für die betroffene Bevölkerung führte dazu, dass unzählige Menschen ihr Leben verloren. Den Bewohner:innen der Region und Beobachter:innen zufolge beschreiben die rund 50.000 gemeldeten Todesfälle bei Weitem nicht das Ausmaß der Katastrophe. Der Staat blockierte die Solidarität von politischen Parteien, Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und vervielfachte so das Leid der Menschen.

„Keine Katastrophe, sondern ein Massenmord“

Der Regionalexperte und Schriftsteller Aziz Tunç sieht in der Verhinderung von Hilfsmaßnahmen einen Versuch des Regimes, die Entstehung von gesellschaftlicher Solidarität zu verhindern. Es gehe bei diesem Vorgehen darum, die kurdische und alevitische Bevölkerung zu isolieren, zu vereinzeln und zur Migration zu zwingen. Tunç sagt: „Die derzeitige Regierung hat diese Erdbeben genutzt, um einen Völkermord an den gesellschaftlichen Gruppen zu begehen, die sie ohnehin vernichten will. In gewisser Weise hat sie das Erdbeben als ‚Geschenk Gottes ‘ betrachtet. Es hat sich wieder einmal gezeigt, dass die faschistische Erdoğan/Bahçeli-Regierung den kurdischen, türkischen und arabischen Aleviten und dem Alevitentum im Allgemeinen absolut feindlich gegenübersteht. Der Staat, der unmittelbar nach dem Erdbeben Such- und Rettungsaktionen hätte durchführen müssen, zeigte drei Tage lang keine Präsenz in den Gebieten, in denen kurdische, türkische und arabische Alevitinnen und Aleviten leben. Indem er die Aleviten dem Tod überließ, hat er ganz klar einen Massenmord begangen. Auch nach den ersten drei Tagen hat er seine feindselige Politik gegenüber den Aleviten beharrlich fortgesetzt.“

Islamistische Parolen staatlicher Kräfte lassen Erinnerungen an das Massaker von 1978 aufkommen

Der staatliche Katastrophenschutz AFAD dient der Führung in Ankara seit Jahren als koloniale Siedlungsorganisation in den von der Türkei besetzten Gebieten in Nord- und Ostsyrien. Die Behörde arbeitet dort eng mit den aus dschihadistischen Söldnergruppen bestehenden Besatzungstruppen zusammen. AFAD gilt als von Islamisten durchsetzt und so stellt es kein Wunder dar, dass staatliche Rettungskräfte nach den Erdbeben in Gurgum immer wieder unter dem islamistischen Schlachtruf „Tekbir“ auftraten. Unter dieser Parole schlachtete bereits der IS seine Opfer ab, und auch türkische Faschisten, die 1978 beim Pogrom in Gurgum hunderte Alevit:innen massakrierten, verwendeten sie. „Für alle Aleviten, insbesondere für jene in Gurgum, ist der Klang des Tekbir-Rufes eine Erinnerung an frühere Massaker und Massenmord. Es gibt niemanden, der bei dieser Parole nicht an 1978 denkt. Darüber hinaus ruft ‚Tekbir‘ Erinnerungen an den IS wach. Solche Rufe sind Zeichen der Diskriminierung, die derzeit auch in anderen Formen geschieht. So machten und machen sich die an Imam-Hatip-Schulen (Islamistische Kaderschmieden) ausgebildeten Funktionäre von AFAD für systematische Diskriminierung bei Hilfsgütern, Nothilfen und der Bergung von Erdbebenopfern verantwortlich“, so Aziz Tunç.

Verschwundene Kinder werden islamistischen Sekten übergeben

Tunç erinnert auch an die vielen Kinder aus dem Erdbebengebiet, die verschwunden sind. „Unter normalen Umständen sollten Kinder, deren Eltern ihr Leben verloren haben, unter den Schutz des Staates gestellt werden. In diesem Fall tut der Staat dies jedoch nicht, sondern übergibt die Schutzbedürftigen ganz offen in die Obhut von Sekten. So werden alevitische und kurdische Kinder der Assimilation unterworfen. Außerdem ist bekanntlich weder das Leben noch die Zukunft der Kinder in diesen Sekten, in denen alle Arten von Unmoral praktiziert werden, gesichert. Schon der Gedanke daran, was mit ihnen geschehen wird, macht den Menschen Angst. Das ist blanke Diskriminierung. Diese Kinder sollten von ihren lebenden Verwandten betreut werden. Die Menschen sollten für dieses Thema sensibilisiert werden. Die Kinder sollten nicht in diese Hände gelangen. All diese Praktiken finden vor unseren Augen statt. Man fragt sich wirklich, warum nichts passiert. Wenn es heute keinen Aufstand gibt, wann dann?“

Offenbar sind Erbebenwaisen von Regierungsseite islamistischen Einrichtungen wie der IHH („Stiftung für Menschenrechte, Freiheiten und Humanitäre Hilfe“) übergeben worden. Das ergaben Recherchen von Halk TV. Das verantwortliche Ministerium räumte dies ein und gab an, es handele sich um „Kinder aus Syrien“, daher sei die Prozedur nicht problematisch. Die IHH ist allerdings nicht nur als Teil der rechtsextremen „Grauen Wölfe“ berüchtigt, sondern gilt auch als dem IS nahestehende Organisation. So wickelte der türkische Geheimdienst MIT Waffenlieferungen an den IS über die IHH ab. Die vermeintliche Hilfsorganisation war auch an Befreiungsversuchen von gefangenen IS-Mitgliedern beteiligt.

Verzögerung der Hilfe für Kurd:innen und Alevit:innen ist politische Entscheidung

Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli, der de facto die Regierungskoalition mit der AKP in der Türkei stellt, beleidigte und bedrohte in einer Fraktionssitzung am 14. Februar Personen, die das Ausbleiben von Erdbebenhilfe kritisierten, als „korrupt“ und „wurzellos“. Tunç sieht darin einen offenen Ausdruck der Diskriminierung: „Es ist bekannt, dass Rassisten mit Blut Politik machen. Daher werden diejenigen, die den Staat in Frage stellen, als ‚Menschen mit schlechtem Blut‘ und ‚Wurzellose‘ definiert. Wer sind diejenigen, die den Staat in Frage stellen? Kurdische und türkische, alevitische und sunnitische Erdbebenopfer. Als ‚von bösem Blute‘ und ‚wurzellos‘ werden damit alle kurdisch-türkischen, alevitisch-sunnitischen Erdbebenopfer und die gesamte Opposition tituliert. Denn alle fragen: ‚Wo bleibt der Staat?‘. Diese faschistische Mentalität sieht bereits alle Kurden, Aleviten und demokratischen Kräfte als Feinde mit ‚bösem Blut‘. Devlet Bahçeli spricht von einem ‚Bürgerkrieg‘ und einem ‚inneren Feind‘. All das zeigt deutlich, was der türkische Staat denkt und tut. Es zeigt, dass das Fernbleiben des Staates vom Erdbebengebiet und sein diskriminierendes Verhalten gegenüber Kurden im Allgemeinen sowie Aleviten eine rein politische Entscheidung ist. Diese Situation hat nichts mit Nachlässigkeit, Kurzsichtigkeit, Unfähigkeit oder fehlenden Kapazitäten zu tun.“

Tunç beschreibt den politischen Hintergrund: „Der türkische Staat war schon immer diskriminierend. Frühere Regierungen diskriminierten heimlich oder versuchten, diese Diskriminierung mit verschiedenen Gründen zu erklären, um die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber dem Staat positiv zu beeinflussen. Diese Regierung diskriminiert jedoch ganz offen. Auf diese Weise missachtet Erdoğan die Kurden und Aleviten vollständig, und dieser Ansatz führt dazu, dass alle anderen Teile der Gesellschaft ebenso mit ihnen umgehen. Man muss erkennen, dass das äußerst belangvoll für die soziologische und politische Situation in der Türkei ist. Mit dieser Haltung hält Erdoğan seine politische Basis auf seiner Seite und macht sie ihm gegenüber loyaler. Gleichzeitig will er den Widerstand der von ihm missachteten gesellschaftlichen Gruppen brechen, indem er offen droht: ‚Solange ihr euch mir widersetzt, werdet ihr nicht leben können‘. Deshalb ist es notwendig, entschlossen zu kämpfen, um Erdoğans Ansatz ins Leere laufen zu lassen.“

„Der Staat spielt mit dem Leid der Menschen“

Tunç fährt fort: „Bei diesem Erdbeben hat der Staat den kurdischen, türkischen und arabischen Aleviten nicht geholfen. Das ist ganz klar und sicher. Aber kann man sagen, dass der Staat dem gesellschaftlichen Segment, das er als seine natürliche Basis betrachtet und auf diese Weise geschaffen und geformt hat, ebenso gleichgültig gegenüberstünde? Die Antwort auf diese Frage lautet: Nein. Es wäre sicherlich nicht falsch zu sagen, dass sich der Staat diesen Gruppen gegenüber fürsorglich und wohlwollend verhält.“ Tunç weist darauf hin, dass Rettungskräfte, die um Hilfe gebeten wurden, immer wieder unterstrichen hätten, sie seien woanders im Einsatz. Es liegen etliche Berichte vor, dass zuerst den Anhänger:innen des Regimes geholfen wurde. Er fährt fort: „Erdoğan beschimpfte in einer Rede die demokratischen Kräfte, die Aleviten und Kurden, weil sie erklärt hatten, dass keine Hilfe angekommen sei. Er sagte, dass der türkische Rote Halbmond jeden Tag zweieinhalb Millionen Mahlzeiten verteile. Es ist sicher, dass die Menschen, an die so viele Lebensmittel verteilt wurden, keine Aleviten waren. Entweder wurden diese Lebensmittel also gar nicht verteilt und Erdoğan lügt, oder aber sie wurden verteilt, nur nicht an Aleviten. Die zweite Möglichkeit scheint wahrscheinlicher zu sein. In diesem Fall bedeutet es, dass das Ausmaß der Diskriminierung viel höher, gefährlicher und schrecklicher ist, als man glaubt. Das muss anerkannt werden. In diesem Sinne hat Erdoğan auch ein Geständnis abgelegt. Auch das ist wichtig zu beachten.“

Diese Politik werde auch jetzt fortgesetzt, sagt Aziz Tunç und führt aus: „Durch die schnelle, zügige und aufopferungsvolle Arbeit alevitischer und kurdischer Organisationen und anderer demokratischer Institutionen wurde den Aleviten geholfen, die vom Staat nicht unterstützt wurden. Es war der Staat, der diese Solidarität sowohl fürchtete als auch verhinderte. Die Hilfe, die er stoppte, richtete sich genau an diese Menschen. Niemand sollte daran zweifeln, dass die Hilfe nicht verhindert worden wäre, wenn sie an die politische Basis von Erdoğan und Bahçeli gegangen wäre.“

„Die Menschen sollten ihre Heimat nicht verlassen“

Der Staat sehe das Erdbeben als Gelegenheit, um die alevitische und kurdische Identität in Gurgum zu vernichten, warnt Aziz Tunç und erklärt: „Diese Tatsache wurde durch die anhaltenden Enthüllungen der demokratischen Öffentlichkeit ans Licht gebracht. Der Staat hat diesen Plan nicht aufgegeben. Die erste Frage ist, ob es dem Staat gelingen kann. Die zweite ist, wie dieser Genozidplan verhindert werden kann. Es ist bekannt, dass der türkische Staat durch Völkermorde dafür gesorgt hat, dass Armenier und Juden nicht mehr in dieser Region leben können. Es ist ebenso offensichtlich, dass der Staat die kurdische und alevitische Identität in der Region auslöschen will. Es ist jedoch möglich und notwendig, das zu verhindern. Wie? Aleviten und Kurden können ihr Land vorübergehend verlassen. Sie dürfen ihr Land jedoch nicht verschenken und opfern. Auf keinen Fall dürfen sie diese Region den Machenschaften und der Hinterhältigkeit des Staates, der AKP und der MHP überlassen. Alle gesellschaftlichen Institutionen sollten die Kraft und Energie der Gesellschaft organisieren und die notwendige Besonnenheit zeigen, diese Aufgabe zu bewältigen, ohne in die Fallen des Staates zu tappen.“

„Wiederaufbau muss als politischer Prozess und Kampf betrachtet werden“

Für die Zukunft macht Aziz Tunç folgende Vorschläge: „Aktuell geht es darum, Überlebensbedingungen für die Erdbebenopfer zu schaffen, sie zu organisieren und die Wunden zu lindern. Es wird keine leichte Aufgabe sein, neue Lebensmöglichkeiten für die Menschen zu schaffen, die ihre Arbeitsplätze und Einkommensmöglichkeiten verloren haben. Aktuell ist es notwendig, Überlebensmöglichkeiten für die Erdbebenopfer zu schaffen, bis sie irgendwann wieder Arbeit und Unterkunft haben werden. Auf diese Weise werden sie in der Lage sein, auf sicherere Art und Weise in ihr eigenes Land zurückzukehren. Bei der Durchführung dieses Prozesses sind zwei Punkte hervorzuheben. Erstens wäre es ein großer Fehler, diesen Prozess als einfache wirtschaftliche Hilfe zu betrachten. Im Gegenteil, dieser Prozess ist ein politischer und sollte als Kampf geführt werden. So wie der Staat während des Erdbebens die Hilfe blockierte und die Betroffenen in die Abhängigkeit von AFAD zwang, wird es auch künftig weitergehen. Darauf vorbereitet zu sein, kann nur mit einem politischen Ansatz möglich werden. Warum zwingt Erdoğan die Erdbebenopfer in die Abhängigkeit von AFAD? Warum versucht er, demokratische Organisationen an der Hilfeleistung zu hindern? Weil Erdoğan die Gesellschaft durch AFAD zwingen will, türkisch-nationalistisch und islamistisch zu werden. Dieser Assimilationsprozess wird durch die Übergabe von Kindern an Sekten vorangetrieben. Das reibungslose Funktionieren des Erdoğan-Systems soll damit sichergestellt werden. Darüber hinaus soll der Widerstand der oppositionellen gesellschaftlichen Gruppen gebrochen werden. Aus diesem Grund müssen wir dem Staat unsere kurdischen, alevitischen und demokratischen Identitäten und Institutionen entgegensetzen. Nur so kann die Assimilations- und Genozidpolitik des Staates vereitelt werden.“

„Nicht individuell, sondern kollektiv helfen“

Tunç unterstreicht die Notwendigkeit der Kollektivität von Solidarität und sagt: „Natürlich sollten alle Organisationen so viel Hilfe leisten, wie sie können. Der aktuelle Angriff im Windschatten des Erdbebens ist jedoch ein komplexer und umfassender Völkermordangriff auf eine Nation und eine Glaubensrichtung. Einem solchen Angriff kann nur mit allgemeiner und nationaler Organisierung begegnet werden, und er kann nur mit einer Organisierung dieser Größenordnung abgewehrt werden.“

Titelfoto: MHP-Anhänger zeichnen beim Pogrom von Gurgum 1978 das Symbol ihrer Partei an Geschäfte von Aleviten: drei Halbmonde in Anlehnung an die alte Kriegsflagge des Osmanischen Reiches.