Wegen Efrîn-Kritik verurteilte Ärzt:innen freigesprochen

Weil sie die Invasion Efrîns kritisierten und „Krieg als von Menschen gemachtes Problem der öffentlichen Gesundheit“ bezeichneten, wurden elf Spitzenmitglieder des TTB 2019 zu Haftstrafen verurteilt. Ein Berufungsgericht sprach sie nun frei.

Am 20. Januar 2018 begann der Angriffskrieg der Türkei gegen die bis dahin vom Krieg in Syrien weitgehend verschonte Region Efrîn. Unter Verhöhnung eines bekannten Friedenssymbols benannte das türkische Regime seine im Schulterschluss mit dschihadistischen Söldnern geführte Invasion „Operation Olivenzweig“. Knapp zwei Monate dauerte der Widerstand gegen die zweitgrößte NATO-Armee an, dann wurde zum Schutz der Bevölkerung der Rückzug beschlossen. Seit dem 18. März 2018 ist Efrîn besetzt. Seitdem herrscht ein Terrorregime über dem zuvor basisdemokratisch selbstverwalteten und mehrheitlich kurdisch besiedelten Kanton.

Der Bund der türkischen Ärztinnen und Ärzte (TTB) gehörte damals zu jenen Organisationen in der Türkei, die sich offen gegen die „Olivenzweig-Offensive“ positionierten. Wenige Tage nach Beginn des Angriffs verbreitete der TTB eine Erklärung, in der Krieg als ein „von Menschen gemachtes Problem der öffentlichen Gesundheit“ bezeichnet und gewarnt wurde, Konflikte führten zu „irreparablen Schäden“. „Nein zum Krieg, Frieden jetzt“, hieß es in dem Schreiben des TTB. Wie es ihr ärztlicher Beruf ihnen vorgebe, setzten sich die Unterzeichnenden für das Leben ein.

Damit zog sich der TTB den Zorn von Präsident Recep Tayyip Erdogan zu. Er warf der „sogenannten medizinischen Vereinigung“ vor, „Terroristen-Liebhaber“ zu sein. Ihre Mitglieder seien „keine Intellektuellen, sondern eine Bande nichtdenkender Sklaven“ und „Diener des Imperialismus“, so der türkische Regimechef. In der Folge leitete die Generalstaatsanwaltschaft nach einer Beschwerde des Innenministeriums ein Ermittlungsverfahren ein. Elf Spitzenmitglieder, die zum damaligen Zeitpunkt allesamt zum Zentralrat des TTB gehörten, darunter auch der damalige TTB-Vorsitzende Raşit Tükel, wurden bei landesweiten Razzien festgenommen und in einer zur Arrestzelle umfunktionierten Sporthalle der Polizei Ankara festgehalten. Nach einer Woche kamen sie wieder frei, kurz darauf nahm ein Gericht die Anklageschrift gegen die Ärztinnen und Ärzte. Der Vorwurf: Volksverhetzung durch Aufstachelung zu Hass und Gewalt.

Im Mai 2019 befand ein Strafgericht in Ankara alle Angeklagten für schuldig, mit ihrem Appell gegen Krieg den öffentlichen Frieden gestört zu haben, und verurteilte Ayfer Horasan, Bülent Nazım Yılmaz, Dursun Yaşar Ulutaş, Funda Barlık Obuz, Hande Arpat, Raşit Tükel, Mehmet Sezai Berber, Mustafa Taner Gören, Selma Güngör, Sinan Adıyaman und Seyhmus Gökalp jeweils zu einer Freiheitsstrafe von zweimal zehn Monaten. Am gestrigen Donnerstag, über drei Jahre nach dem scharf kritisierten Prozess, hob ein regionales Berufungsgericht in der türkischen Hauptstadt die Urteilssprüche wieder auf und sprach alle Angeklagten frei. Entgegen der Annahme der Erstinstanz sei in der Erklärung des TTB kein Straftatbestand ersichtlich gewesen.

„Zwar ist der Aufruf weit entfernt von Sachlichkeit sowie Neutralität und ist verletzend und auch verstörend. So sieht jedoch kein Aufruf aus, mit dem Volksverhetzung betrieben werden oder zu Gewalt aufgefordert werden könnte“, begründeten die Richter:innen ihre einstimmig gefällte Entscheidung. „Das Gericht kann weder Anhaltspunkte noch Tatsachen erkennen, die den Verdacht einer konkreten Gefährdung des öffentlichen Friedens durch den Aufruf begründet hätten. Somit stellten die getroffenen Aussagen keine unmittelbare Gefahr im Sinne des entsprechenden Gesetzes dar.“

Die Ärztin Hande Arpat, die damals auch wegen des Vorwurfs der „Propaganda für eine terroristische Organisation“ zu einer weiteren Haftstrafe in Höhe von einem Jahr, sechs Monaten und 22 Tagen verurteilt worden war, sprach die Berufungsinstanz in Ankara ebenfalls frei. Ob die Staatsanwaltschaft noch einmal Rechtsmittel einlegen will, ist allerdings unklar. Bisher hat sich die Behörde nicht zur Entscheidung des Berufungsgerichts geäußert.