„Ohne Demokratie droht die Spaltung der Türkei”
Die Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Besê Hozat, hat sich in einem Interview mit dem Fernsehsender Medya Haber TV zum Besuch bei Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali und den Gefahren eines weiteren Konfliktes in der Region geäußert. Sie betonte die Notwendigkeit einer demokratischen Lösung für die kurdische Frage und warnte vor den Konsequenzen einer Fortsetzung der derzeitigen Politik.
Friedensprozess oder Spezialkriegstaktik
Hozat zeigte sich skeptisch gegenüber den neuerlichen Avancen der türkischen Regierung und den Friedensangeboten aus dem Lager Erdoğans und seines Koalitionspartners Bahçeli an die Kurd:innen. Es dürfte sich weniger um eine ernstgemeinte Friedensinitiative als vielmehr um eine „Spezialkriegstaktik“ handeln, sagte sie. „Wie kann eine Regierung, die die Selbstverteidigung der Kurd:innen in Rojava ablehnt und die dortige Autonomieverwaltung zu zerstören versucht, ernsthaft eine demokratische Lösung für die kurdische Frage anbieten?“, so Hozat.
Am Samstag hatte der seit 1999 in der Türkei inhaftierte PKK-Begründer Abdullah Öcalan erstmals nach zehn Jahren Besuch von einer Delegation der DEM-Partei erhalten. Bei dem Gespräch habe der 75-Jährige seine Bereitschaft bekundet, einen Friedensprozess zu unterstützen, erklärten die Abgeordneten Sırrı Süreyya Önder und Pervin Buldan nach dem Besuch. „Die erneute Stärkung der türkisch-kurdischen Geschwisterlichkeit ist eine historische Verantwortung und hat eine entscheidende und dringende Bedeutung für das Schicksal aller Völker“, zitierten sie Öcalan.
Der Besuch bei Öcalan war genehmigt worden, nachdem der rechtsnationalistische Bündnispartner Erdoğans im Oktober überraschend eine öffentliche Erklärung zur Auflösung der PKK und den Verzicht auf Gewalt von Öcalan verlangt hatte. Devlet Bahçeli, Vorsitzender der MHP, schlug die Verkündung als Voraussetzung für eine mögliche Begnadigung und Freilassung von Öcalan vor, was auch von Erdoğan öffentlich unterstützt wurde. Kurz darauf wurde der PKK-Begründer zum ersten Mal seit 2020 wieder von einem Familienangehörigen besucht. Die DEM-Partei, die Nachfolgerin der HDP ist, beantragte daraufhin beim türkischen Justizministerium eine Besuchsgenehmigung bei Öcalan. Vergangenen Freitag lag dann die Erlaubnis vor.
Besê Hozat hob hervor, dass Abdullah Öcalans Bereitschaft, eine Lösung herbeizuführen, eine historische Chance für die Türkei sei. Sie warnte jedoch vor einer weiteren Spaltung des Landes, sollte diese Chance ungenutzt bleiben. „Ohne eine demokratische Lösung wird die Türkei ethnische und religiöse Konflikte erleben, die über Generationen andauern werden. Am Ende könnte die Republik Türkei als Staat nicht mehr existieren“, so Hozat.
Gefahr durch regionale Konflikte
Die KCK-Vorsitzende beschrieb die geopolitische Lage in der Region als äußerst bedrohlich. Hozat verwies auf das sogenannte Greater Middle East Project – eine Strategie, die darauf beruht, den Mittleren Osten von potenziellen Bedrohungen für die USA und den Westen zu säubern – das im Interesse Israels und hegemonialer Kräfte umgesetzt werde. Sie betonte, dass die Türkei Teil dieser Pläne sei und warnte: „Wenn diese Pläne nicht gestoppt werden, wird die Region in ethnische und religiöse Kriege gestürzt. Der türkisch-kurdische Konflikt könnte sich verschärfen und die gesamte Region destabilisieren.“
Öcalan als Schlüssel zur Lösung
Hozat hob die Bedeutung Abdullah Öcalans für eine demokratische Lösung hervor. Er habe deutlich gemacht, dass er bereit sei, seinen Beitrag zu leisten, wenn die türkische Regierung ernsthaft Schritte unternehme, um die Konflikte zu beenden. „Öcalan besitzt die theoretische und praktische Fähigkeit, die kurdische Frage auf demokratischem Wege zu lösen“, erklärte Hozat und forderte die türkische Opposition auf, ebenfalls Verantwortung zu übernehmen.
Rojava im Fokus
Die Situation in Rojava und Nord- und Ostsyrien bewertete Hozat als Schlüssel für die Zukunft der kurdischen Bewegung und den Frieden in der Region. Sie unterstrich die Notwendigkeit, die Errungenschaften der Demokratischen Selbstverwaltung (DAANES) zu verteidigen, und rief die Kurdinnen und Kurden in allen Teilen Kurdistans zur Solidarität auf. „Rojava ist nicht nur ein Symbol des Widerstands, sondern auch ein Modell für eine demokratische und inklusive Gesellschaft. Dieses Projekt zu verteidigen, ist eine Aufgabe für alle Teile Kurdistans und die internationale Gemeinschaft“, sagte Hozat.
Auch die Bemühungen um die physische Freiheit Abdullah Öcalans müssten unterstützt werden, forderte Hozat. „Nur durch starken Widerstand, Einheit und Solidarität können wir die Freiheit sichern und eine demokratische Zukunft für die Region gestalten.“