Nedim Seven: Demokratisches Paradigma, statt Nationalstaat

Nedim Seven, Mitglied des Zentralkomitees der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), sprach mit ANF über das Paradigma von Abdullah Öcalan, welches als demokratisches Gesellschaftsmodell eine echte Alternative böte.

Die PKK hat Optionen

Im Gespräch mit ANF gin Nedim Seven, Mitglied des Zentralkomitees der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), auf das Paradigma von Abdullah Öcalan ein, welches als demokratisches Gesellschaftsmodell eine echte Alternative böte. Er bewertete auch die aktuelle geopolitische und militärische Situation in Kurdistan und dem Nahen Osten. Das Gespräch fand vor dem 15. Februar statt und ist in zwei Teilen veröffentlicht, der erste Teil kann hier nachgelesen werden.

„Die PKK verteidigt sich“

Im Gespräch ging Seven auf die aktuellen Militärtaktiken der PKK ein, die unter dem Kommando der Volksverteidigungskräfte (HPG) entwickelt wurden. Dabei betonte er, dass die PKK sich nicht im Krieg befinde, sondern sich vielmehr selbst verteidige: „Wir sind nicht in den Krieg verliebt, wir verteidigen uns selbst“, erklärte Seven. Er kritisierte zudem die AKP-Regierung der Türkei, die seiner Meinung nach seit Jahren auf erfolglose Verhandlungen und Taktiken setze.

Neue Taktiken im kurdischen Widerstand

Laut Seven hätte die PKK unter der Führung der HPG neue Militärstrategien entwickelt, die es der Bewegung ermöglichten, sich in verschiedenen Regionen des Nahen Ostens, insbesondere in Kurdistan und der Türkei, zu verteidigen. Dies sei Teil eines größeren Plans, die physische Freiheit von Abdullah Öcalan zu erreichen, der in der Türkei inhaftiert ist.


Lösungsideen Abdullah Öcalans

Seven sieht in den Ideen des kurdischen Vordenkers großes Potenzial und rief daher dazu auf, das Buch „Manifest der Demokratischen Zivilisation“ von Öcalan zu lesen. Es könne seiner Ansicht nach einen wichtigen Beitrag zur Lösung der regionalen Probleme leisten.

Das „Manifest der Demokratischen Zivilisation“ von Abdullah Öcalan ist ein zentrales politisches Werk, das eine fundamentale Abkehr von traditionellen nationalstaatlichen Konzepten hin zu einem dezentralisierten, demokratischen Gesellschaftsmodell fordert. Es stellt eine Antwort auf die gegenwärtigen geopolitischen und sozialen Herausforderungen vor und bietet einen alternativen gesellschaftlichen Entwurf zu den bestehenden politischen Systemen.

Historische Perspektive und die Bedeutung des Nahen Ostens

In seiner Analyse der geopolitischen Lage betitelte Seven die aktuelle Situation im Nahen Osten als den Dritten Weltkrieg, der vor dreißig Jahren begonnen habe. Als Ausgangspunkt betrachte er nicht den Gaza-Krieg, sondern die beiden Golfkriege. Nedim Seven bezog sich dabei auf die Auswirkungen des Golfkriegs auf die kurdische Bewegung und die Inhaftierung Öcalans, die seiner Meinung nach entscheidende Wendepunkte im aktuellen Konflikt darstellten.

Seven hob hervor, dass die traditionellen Nationalstaaten im Nahen Osten zunehmend an Bedeutung verlieren würden und die Region einen Wandel hin zu neuen politischen Systemen durchlaufe. Dies sei besonders für das kurdische Volk von Bedeutung, das, so Seven, nun in der Lage sei, politisch, rechtlich und organisatorisch eine führende Rolle in der Region zu übernehmen.

Die Rolle der PKK und der kurdischen Freiheitsbewegung

Seven betonte, dass die PKK und die von ihr geführte Bewegung nicht nur für die Kurd:innen, sondern auch für andere Völker im Nahen Osten eine Alternative zum bestehenden nationalstaatlichen System darstellten. Dafür sei vor allem das „ökologische, demokratische und frauenbefreiende Paradigma“ der kurdischen Guerilla grundlegend, das vor allem von Frauen und Jugendlichen getragen werde. Seven unterstrich die Rolle der Frauenbewegung deutlich und bezeichnete sie als eine der „radikalsten demokratischen und emanzipatorischen Bewegungen“ der Region.

Verhandlungen und Alternativen der Freiheitsbewegung

Trotz der fortdauernden militärischen Auseinandersetzungen betonte Seven, dass die PKK weiterhin offen für eine friedliche Lösung sei. Er erklärte, dass die Freiheitsbewegung allerdings auch bereit sei, auf alternative Methoden zurückzugreifen, sollte die Gesundheit und die physische Freiheit von Abdullah Öcalan nicht garantiert werden. „ Auch wir haben Optionen. Wir glauben, dass eine demokratische Lösung die richtige Wahl ist“, sagte Seven. Dabei verwies er auf die geopolitischen Veränderungen im Nahen Osten, insbesondere auf die Entwicklungen in Ländern wie Israel und Iran.

Freiheit von Abdullah Öcalan bleibt zentrale Forderung

Seven wies darauf hin, dass die Freiheitsbewegung, nach Jahren des Widerstands und der revolutionären Kämpfe, nicht mehr ohne Alternativen sei. Gleichzeitig betonte er, dass die physische Freiheit von Abdullah Öcalan und die Verbesserung seiner Lebensbedingungen im Gefängnis eine zentrale Forderung der Bewegung bleibe. Die Organisation habe sich „trotz Unzulänglichkeiten, Kritik und Infragestellung in seinem Sinne weiterentwickelt“.

Plan mit historischen Daten

Seven sieht hinter dem Vorgehen des türkischen Staates einen Plan, der sich historischer Daten bediene. Dieser Entwurf habe bereits bei der Auslieferung des PKK-Begründers bestanden: „Diesem Plan zufolge wurde der Vorsitzende am 15. Februar gefangen genommen, und die Todesstrafe wurde am 29. Juni verhängt.“ Der 15. Februar sei das Datum eines der großen Aufstände des kurdischen Volkes, des Şêx-Seîd-Aufstandes. Am 29. Juni 1925 wurden Şêx Seîdê Pîran und 46 seiner Weggefährten in der Altstadt von Amed (tr. Diyarbakir) hingerichtet. Dem kurdischen Volk sei es laut Nedim Seven jedoch gelungen „durch einen großen Kampf, das völkermörderische, faschistische und besatzende System des türkischen Staates zu verändern.“ Er bezieht sich hierbei auf die Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei. Als dies geschah, habe Abdullah Öcalan vorgeschlagen den 2. August zu einem Feiertag zu machen. Denn die Abschaffung der Todesstrafe galt nicht nur für ihn selbst, sondern war als unmenschliche Strafe generell abgeschafft worden.

Der 15. Februar als Wendepunkt

Seven erinnerte an den 15. Februar als einen dunklen Tag für das kurdische Volk. Er markiere für die PKK einen symbolischen Wendepunkt im Kampf für die Freiheit von Abdullah Öcalan. „Dieser Tag wird der Beginn eines Prozesses sein, der das kurdische Volk und die Völker des Nahen Ostens in eine bessere Zukunft führt“, sagte Seven.

Der 15. Februar hat für die PKK eine herausragende symbolische Bedeutung. An diesem Datum 1999 wurde Abdullah Öcalan von türkischen Sicherheitskräften in Kenia gefangen genommen und nach der Übergabe in die Türkei inhaftiert. Für die kurdische Freiheitsbewegung ist dieser Tag nicht nur ein Moment der Erinnerung an diese Gefangennahme, sondern wird auch als Beginn eines Prozesses gesehen, der zu einem Völkermord an kurdischen Führungskräften und Aktivist:innen führte. Die PKK betrachtet diesen Tag als entscheidendes Datum im Kampf um die Freiheit des kurdischen Volkes und als Beginn einer Phase intensiver Repression und Isolation.