Die Tagung „Perspektive Rojava – Demokratische Vision aus Nord- und Ostsyrien“ ging am Sonntag erfolgreich zu Ende. Zuvor standen Vorträge und Diskussionen zum Thema „Sicherheit in Syrien“ auf dem Programm der Konferenz im Collegium Academicum. Nach einer theoretischen Auseinandersetzung zum Thema Abolitionismus wurde mit einer Liveschaltung zu Behörde für innere Sicherheit (Asayîş) in Rojava die konkrete Erfahrung einer selbstverwalteten Sicherheitsstruktur vorgestellt.
Brauchen wir die Polizei wirklich?
Zuletzt war Polizeigewalt unter anderem gegen psychisch kranke Menschen immer wieder Thema von Diskussionen in der Bundesrepublik. Daher war eine Frage der Konferenz: Brauchen wir die Polizei wirklich? Prof. Dr. Michael Haus, Politikwissenschaftler und Professor an der Universität Heidelberg, erklärte zunächst den Begriff Abolitionismus. Dieser gehe auf die Abschaffung der Sklaverei in den USA zurück. Heute stehe er für die Überwindung von staatlichen Gewaltstrukturen überhaupt, etwa die Todesstrafe, das Militär, Grenzen und Gefangenenlager. Der Abolitionismus sehe die Polizei als integralen Bestandteil einer kapitalistischen, rassistischen und sexistischen Ordnung.
So ging etwa die Polizei in den USA direkt aus den sogenannten Sklavenpatrouillen hervor. Solchen staatlichen Gewaltstrukturen gehe es darum, unterdrückte Gruppen zu kontrollieren. Besonders benachteiligte Gruppen würden, so Haus, existentielle Unterdrückung erfahren. Daher stelle die Polizei eine Gefahr für marginalisierte Gruppen dar, statt Sicherheit zu schaffen. Ohnehin sei die empirische Grundlage der Theorie, dass mehr Polizei mehr Sicherheit bedeute, nicht belegt. Gleichzeitig vertrete der Abolitionismus, dass eine Reformation der Polizei nicht möglich sei. Was solle dann an die Stelle der Polizei treten?
Der Abolitionismus sei eng verbunden mit Gemeinschafen bzw. Communities, dem intensiven Aufbau von selbstverwalteten, selbstverantwortlichen Strukturen, angesiedelt zwischen Anarchismus und Kommunitarismus. Haus betonte die Vorreiterschaft marginalisierter Gruppen im Aufbau solcher kommunalen Strukturen.
Die Sicherheitskräfte von Rojava
Im Anschluss an den Vortag von Professor Haus wurde Diyar Sheiko von der Asayîş per Videocall zugeschaltet. Er gratulierte zunächst den YPG und YPJ zum 10. Jahrestag der Befreiung von Kobanê gegen den sogenannten Islamischen Staat, bevor sein eigentlicher Vortrag begann. So betonte Sheiko eingangs, dass die Sicherheitskräfte der DAANES sich als Sicherheitskräfte der Gesellschaft verstünden. Innergesellschaftliche und soziale Probleme würden in der Regel durch gesellschaftliche Strukturen, wie etwa die Volkshäuser (Mala Gel) und Häuser der Frauen (Mala Jin) gelöst.
„Unsere Kräfte sind auf der Basis der Gesellschaft aufgebaut“, so Sheiko. Und im Gesellschaftsvertrag Nord- und Ostsyrien seien die Werte der Gesellschaft verankert. Die Sicherheitskräfte seien immer Teil der Räte, die auch jederzeit Kritik am Vorgehen dieser leisten könnten. So sei garantiert, dass die Bedürfnisse der Gesellschaft abgedeckt würden.
Sheiko ging im weiteren Verlauf auf die Bedeutung der Hezên Cewherî, der Selbstverwaltungskräfte der Kommunen in der DAANES ein. Diese seien für die Sicherheit der Kommunen zuständig. Nur im Falle, dass diese mit größeren Problemen konfrontiert werden, beispielsweise durch terroristische Gruppierungen, würden sie die Asayîş zur Hilfe holen.
Die moralisch politische Gesellschaft ist die Basis für das Zusammenleben aller Komponenten der Bevölkerung, führte Sheiko weiter aus. Die Asayîş hätte eine Spezialisierung der Kräfte mit spezieller Ausbildung hervorgebracht, Frauen seien im Bereich häuslicher Gewalt zuständig. Denn nur Frauen dürften Entscheidungen über Frauen treffen.
Insgesamt bestehe eine große Gefahr durch Terrorzellen unter anderem des Islamischen Staates. Jeder Einsatz gegen diese Zellen werde protokolliert und öffentlich gemacht, dasselbe gelte für Drogenhandel und Korruption. Es gehe aber weniger um individuelle Lösung von Problemen oder Bestrafung. Vielmehr werde versucht, die Wurzel der Probleme zu analysieren.
Zuletzt ging Sheiko auf den Widerstand am Tişrîn-Staudamm ein. Dieser sei ein lebendiges Beispiel für die enge Verbindung zwischen den Verteidigungskräften, den Sicherheitskräften, der Asayîş und der Gesellschaft selbst, die sich schützend vor die YPJ und YPG gestellt habe.
Grußbotschaft vom Tişrîn Damm
Die Abschlussworte der Konferenz sprachen Monika und Volker Bunse vom Verein „Familien für den Frieden“, deren Tochter Lea vor einigen Tagen durch einen türkischen Drohnenangriff am Tişrîn-Staudamm verletzt worden war. Volker Bunse berichtete über seine Erfahrung bei einer Delegationsreise nach Rojava.
Nachhaltig beeindruckt habe ihn eine Schulung für Männer, in der diese über ihre Haltung zur Geschlechterfrage diskutierten. Er habe Menschen kennengelernt, die selbst Angehörige im Kampf gegen den IS verloren hatten. Diese würden heute ehemalige IS-Mitgliedern zu Demokratiefragen unterrichten.
Die Konferenz wurde vom selbstverwalteten Studierenden- und Auszubildendenwohnheim „Collegium Academicum“ organisiert.
Lea Bunse sei ebenso wie ein weiterer Sohn von einem Mitglied der Familien für den Frieden, Jakob Rihn, neben vielen weiteren Menschen am Tişrîn-Staudamm durch türkische Luftangriffe oder Drohnen verletzt worden. Volker Bunse verurteilte die Waffenlieferung der Bundesregierung an die Türkei. Seine Partnerin Monika Bunse, die Mutter von Lea, erklärte, ihre Tochter sei auf der Suche nach einem gerechten Leben und begeistert von der Frauenrevolution in Rojava. Sie habe sich selbst gefragt, ob sie wohl auch an der Friedenswache an der Dammanlage teilgenommen hätte, wäre sie in Rojava. „Ich kann meine Tochter verstehen. Sie wäre nicht unsere Tochter, wenn sie nicht zum Tişrîn-Damm gegangen wäre“.
Botschaft von Lea
Lea selbst schickte noch eine Grußbotschaft aus ihrem Krankenbett in Hesekê. Der Kampf um Tişrîn müsse in der ganzen Welt bekannt werden, forderte sie. Der Damm sei zu einem Symbol für den Kampf um Rojava geworden, die Menschen kämpften für ihr Land, ihre Wasser, ihre Erde. Bunse kritisierte besonders die Angriffe auf Verletzte und Krankenwagen. Deren Fahrer:innen bezeichnete sie als die „größten Held:innen“, weil sie Verletzte aus der Angriffszone führten, obwohl sie selbst angegriffen werden könnten.
Demonstration durch Heidelberg
Zum Abschluss forderten Monika und Volker Bunse die sofortige Sperrung des Luftraumes von Rojava, eine Flugverbotszone, eine unabhängige Untersuchung der Kriegsverbrechen der Türkei und eine Anerkennung der Selbstverwaltung. Sie schlossen die Konferenz mit dem Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit). Im Anschluss an die Konferenz fand noch eine Demonstration durch die Heidelberger Innenstadt gegen die Angriffe der Türkei gegen den Tişrîn-Damm statt.