Nord- und Ostsyrien: Es findet ein Ökozid statt

Ibrahim Esed ist Ko-Vorsitzender des Ökologie-Ausschusses. Im Interview betont er die Notwendigkeit, das ökologische Bewusstsein in Nord- und Ostsyrien weiterzuentwickeln und sich den türkischen Angriffen auf die Umwelt entgegenzustellen.

Ökologisches Bewusstsein entwickeln

Die selbstverwalteten Regionen von Nord- und Ostsyrien werden auf vielen Ebenen gleichzeitig angegriffen. Während einerseits eine massive Vertreibungspolitik stattfindet und die Demografie in den türkisch besetzten Regionen aktiv umgestaltet wird, nutzt der türkische Staat seine Kontrolle über die Flüsse, um das Autonomiegebiet auszutrocknen oder zu überfluten. Hinzu kommen die sich verschärfenden Bedingungen aufgrund des menschengemachten Klimawandels. Die Revolution von Rojava hat den Aufbau einer ökologischen Gesellschaft zu einem ihrer Grundpfeiler gemacht. Unter Kriegsbedingungen ein ökologisches Bewusstsein zu schaffen, erweist sich jedoch als schwierig. Vor kurzem fand die erste Ökologie-Konferenz von Nord- und Ostsyrien statt. Im ANF-Interview äußerte sich Ibrahim Esed als Ko-Vorsitzender des Ökologie-Komitees der Selbstverwaltung zum Kampf um ein ökologisches Leben in Nord- und Ostsyrien und der Umsetzung der Ziele der Konferenz.


Könnten Sie zunächst über die Verfolgung ökologischer Ansätze in Nord- und Ostsyrien seit Beginn der Revolution berichten?

Wir können die Arbeit des von der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens gebildeten Ökologierats bzw. der Institutionalisierung der ökologischen Arbeit in zwei Phasen einteilen: vor der Revolution und nach der Revolution. Natürlich kann man die Zeit nach der Revolution ebenfalls in eine Phase vor der Bildung des Ökologierats und danach einteilen. Wenn man die Politik der Regionalstaaten betrachtet, dann zeigt sich in Bezug auf Kurdistan in den verschiedenen Teilen eine unterschiedliche Entwicklung. Auch wenn die gleiche Haltung und die gleiche Mentalität dahinter standen, setzte das Baath-Regime seine Politik auf eine etwas andere Art und Weise um. Die vom baathistischen Regime entwickelte Wirtschafts- und Sozialpolitik war sehr subtil. Den Menschen in der Region wurden die Möglichkeiten genommen, sich von ihrem Land selbst zu versorgen. So sollte ein ökonomischer Druck auf die Menschen aufgebaut werden. Dieser Druck sollte einen Migrationsdruck aus den kurdischen Regionen erzeugen und dafür sorgen, dass die kurdische Bevölkerung in die Großstädte abwandert und sich zerstreut. Auf der anderen Seite gab es einen massiven missbräuchlichen Umgang mit der Natur in Rojava. Da die Menschen in Rojava ständig mit wirtschaftlichen Problemen beschäftigt waren, waren sie kaum in der Lage, die Zerstörung der Natur wahrzunehmen und eine Gegenhaltung zu entwickeln. Man kann sogar sagen, dass sich die Menschen in Rojava der Zerstörung ihrer eigenen Natur nicht einmal bewusst waren. Diese Politik wurde vom baathistischen Regime auf eine sehr subtile und schmutzige Weise durchgeführt. Das baathistische Regime hatte die Regionen Cizîrê und Efrîn zu seinen eigenen Wirtschaftszentren gemacht. Die Menschen, die in diesen Regionen wohnten, mussten die Produkte, die sie für ihren Lebensunterhalt anbauten, sehr billig verkaufen. Die Einnahmen aus den Bodenschätzen gingen ebenfalls an das Baath-Regime, und die Menschen in der Region hatten keinen Nutzen von diesen Ressourcen. Darüber hinaus gab es in der Gesellschaft keine Sensibilität für die Natur. Diese Situation dauert bis heute an. Vielleicht gibt es eine Verbundenheit mit dem eigenen Land, aber es ist zu schwach, um es durch ein ökologischen Bewusstsein zu schützen. Eine solche Haltung fehlt nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch bei denen, die sich selbst als Intellektuelle bezeichnen.

Die Revolution vom 19. Juli [2012] revolutionierte alle Bereiche des Lebens. Das soziale Leben veränderte sich tiefgreifend. Die Lebensweise der Menschen, ihre Familienbeziehungen, ihr Verhältnis zur Natur und die Organisierung ihres Lebens wurden revolutioniert. Die Revolution vom 19. Juli ausschließlich als politische Revolution zu betrachten, hieße eine sehr begrenzte Perspektive einzunehmen. Während in einigen Dimensionen wichtige Schritte unternommen wurden, blieben andere Ebenen aufgrund des anhaltenden Krieges und der Angriffe der Türkei unterentwickelt.

Mit dem Aufbau der Selbstverwaltung wurde versucht, ein ökologisches Leben entstehen zu lassen. Der Krieg verzögerte die notwendigen Schritte in dieser Hinsicht. Das Ökologie-Komitee arbeitete im Rahmen der Gemeinden. Mit der Bekanntgabe des Gesellschaftsvertrags wurde ein autonomes Ökologie-Komitee geschaffen. Das Komitee war vor allem daran orientiert, die bisher geleistete ökologische Arbeit zu bewahren. Aus diesem Grund fehlte ihm eine paradigmatische Dimension.

Die Angriffe des türkischen Staates auf Nord- und Ostsyrien, insbesondere die Besetzung von Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî, und die dabei erfolgte Zerstörung der Natur haben schwere Schäden verursacht. Es wurde letztes Jahr damit begonnen, das Ausmaß dieser Schäden zu identifizieren und entsprechende Instandsetzungsarbeiten durchzuführen. Es war wichtig, das Konzept der Ökologie in die Gesellschaft einzubringen und das Bewusstsein dafür zu schärfen. Im letzten Jahr wurde das Ökologie-Komitee sowohl in der Gesellschaft als auch in den allgemeinen Institutionen immer stärker anerkannt.

In Nord- und Ostsyrien wurde vor kurzem zum ersten Mal eine Ökologie-Konferenz abgehalten. Auf welchen Prinzipien gründete diese Konferenz?

Als Ökologie-Komitee haben wir einige Pläne entwickelt. Das Komitee, der Ökologierat und die Ökologie-Akademie haben begonnen, auf dieser Grundlage zu arbeiten. Das Ökologie-Komitee und die Ökologie-Akademie sind aktiv. Unsere Arbeit zum Aufbau des Ökologierates geht weiter. Der Satzungsentwurf für den Rat ist fertig. Er liegt im Rahmen unseres Einjahresziels.

Eine der Aufgaben, die wir uns gestellt hatten, war die Organisierung der Ökologie-Konferenz. Sie fand am 26. und 27. April statt. Viele Ökologie-Aktivist:innen und Akademiker:innen aus verschiedenen Ländern nahmen daran teil. Es war eine Konferenz, auf der die aktuelle Arbeit ausgewertet und Perspektiven diskutiert wurden. Die Konferenz hat ihr Ziel erreicht.

Wie lautete das Hauptmotto Ihrer Konferenz?

Wir schlossen uns der Initiative zur physischen Befreiung von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] an und machten uns folgende Parole zu eigen: „Wir wollen auf der Grundlage des ökologischen Paradigmas Rêber Apo befreien und die kurdische Frage lösen.“ Alle Analysen und Botschaften hatten diese Parole als Basis. Heute befindet sich nicht nur Nord- und Ostsyrien, sondern die ganze Welt in einer schweren ökologischen Krise. Rêber Apo hat Lösungsalternativen für all diese Krisen entwickelt und bietet mit seiner demokratischen und ökologischen Philosophie Perspektiven für die globalen Probleme an. Aber er befindet sich in totaler Isolationshaft. Durch die Konferenz haben wir erneut versucht, der Welt diese Realität vor Augen zu führen. In diesem Sinne wurden alle Seminare auf der Grundlage des Modells der demokratischen Nation organisiert. Es wurden Diskussionen darüber geführt, wie das ökologische Paradigma eine Alternative zum durch das herrschende System geschaffenen Stillstand in der Umweltfrage bieten könnte. Diese Alternative ist in Nord- und Ostsyrien zum Leben erwacht.

Das zweite Thema der Konferenz war die Identifizierung und Überwindung der Defizite bei der Umsetzung des ökologischen Paradigmas in Nord- und Ostsyrien. Darüber hinaus wurden Seminare und Diskussionen zu Bereichen Frauenakademie, Jineolojî, Wirtschaft, Universität, Kommunalverwaltung, Gesundheit, Renaturierung und Aufforstung von Rojava abgehalten. Auf diese Weise haben wir versucht, der Gesellschaft zu zeigen, dass Ökologie alle Lebensbereiche durchdringt und jede Institution direkt damit verbunden ist.

Was waren die wichtigsten Tagesordnungspunkte der Konferenz?

Die zweitägige Konferenz fand unter zwei Hauptthemen statt. Am ersten Tag wurde die demokratische Moderne von ihrer Entstehung bis zum Widerstand diskutiert. In diesem Rahmen fanden auch Seminare ausländischer Wissenschaftler:innen statt. Am zweiten Tag beschäftigte sich die Konferenz damit, wie Umweltzerstörung und soziale Zerstörung in einem Kontext in Kurdistan stattfindet.Es wurde sowohl über Nord- und Ostsyrien als auch über Nordkurdistan, Südkurdistan und Ostkurdistan diskutiert.

Anschließend wurde ein Ergebnispapier verfasst. Die Abschlusserklärung wurde den Konferenz-Delegierten und den Akademiker:innen aus dem Ausland, den Aktivist:innen und Professor:innen, die als Gäste an der Konferenz teilnahmen, vorgelegt. Alle Institutionen, Organisationen, Nichtregierungsorganisationen, Parteien und Umweltaktivist:innen aus Nord- und Ostsyrien nahmen auf Delegiertenebene an der Konferenz teil. Aufgrund der zunehmenden Angriffe des türkischen Staates auf unsere Region konnten viele Menschen aus dem Ausland, die an der Konferenz teilnehmen wollten, nicht anreisen. Daher beteiligten sie sich online an der Konferenz. In diesem Sinne wurde die Abschlusserklärung mit der gemeinsamen Beteiligung und Zustimmung aller Konferenz-Delegierten und Gäste erstellt. Die Abschlusserklärung bestand aus 21 Artikeln. Das Grundprinzip besteht darin, die vom türkischen Staat auferlegte Isolation von Rêber Apo zu verurteilen, ökologische Stadtmodelle gegen die ungeplante, umweltschädliche und krebserregende Urbanisierung zu schaffen, die Trennung zwischen Städten und Dörfern aufzuheben und vor allem der Haltung und Praxis, dass die Dörfer im Dienst der Städte stehen, ein Ende zu setzen und ein System zu schaffen, in dem sich Dörfer und Städte gegenseitig ergänzen.

Rojava ist seit Jahren heftigen Angriffen ausgesetzt. Sowohl die Infrastruktur als auch die Umwelt wurden massiv zerstört. Insbesondere der türkische Staat hat diese Region massiv angegriffen. Welche Initiativen werden Sie dagegen ergreifen?

Der türkische Staat führt systematisch einen Vernichtungsfeldzug gegen die Gesellschaft und die Umwelt in Nord- und Ostsyrien durch. Sowohl der türkische Staat als auch die Regierung in Damaskus greifen täglich das Modell der Selbstverwaltung an. Diese Angriffe sind vielfältig und richten sich gegen jeden Aspekt des Lebens. Die Regierung in Damaskus setzt in der Region viele verschiedene Angriffsmethoden ein, wie zum Beispiel auch die Verbreitung von Drogen. Die Selbstverwaltung wehrt sich täglich mit all ihren Institutionen gegen diese Angriffe. Auch wir als Ökologie-Komitee arbeiten dagegen. Es ist wichtig für uns, die Natur in all ihren Dimensionen zu schützen.

Es werden täglich Tests und Analysen am Wasser des Euphrats durchgeführt, um die Bedrohung durch Zyanid im Wasser nach der Minenexplosion in der Türkei zu erfassen. Darüber hinaus geht der Kampf gegen die Dürre weiter. Es wurde beschlossen, jedes Jahr eine weltweite Ökologie-Konferenz unter der Leitung der Ökologierats von Nord- und Ostsyrien zu veranstalten. Nach der Konferenz haben wir eine Ökologie-Plattform geschaffen.

Werden Sie auch daran arbeiten, das Umweltbewusstsein der Bevölkerung zu stärken?

Gegenwärtig hat unsere Gesellschaft ein Bewusstsein dafür erreicht, die Städte sauber zu halten und sie zu schützen. Das allein macht jedoch kein ökologisches Bewusstsein aus. Daher ist es weiterhin notwendig, ein solches Bewusstsein in der Gesellschaft zu schaffen. Das ist die Basis unserer langfristige Strategie. Wir setzen unsere Bemühungen fort, die ökologische Kultur und das ökologische Verständnis mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu verbreiten. Wir haben dazu eine Akademie. In dieser Akademie wollen wir ökologische Arbeiten auf der Grundlage des Paradigmas der demokratischen Nation durchführen. Wir arbeiten weiterhin gegen alle umweltzerstörerischen Aktivitäten und Tätigkeiten, sowohl in unserer eigenen Region, im Nahen Osten und in der Welt. Es gibt einen Entwurf, den wir erarbeitet haben, um eine rechtliche Dimension der Ökologie zu schaffen und zu schützen, und der den juristischen Institutionen vorgelegt wurde. Diesem Entwurf zufolge basieren alle Institutionen und Organisationen innerhalb der Selbstverwaltung auf einem Leben im Einklang mit der Ökologie. Das Selbstverwaltungssystem basiert ohnehin auf dem ökologischen Paradigma. Auf dieser Grundlage werden wir unsere Bemühungen fortsetzen, Sensibilität und Verantwortung in der Bevölkerung zu fördern.