QSD-Sprecher Şami: „Die Lage ist äußerst gefährlich“

Bei der versuchten Befreiung gefangener Islamisten in Hesekê handelt es sich um den größten Angriff seit der Zerschlagung der Territorialherrschaft des IS. Der QSD-Sprecher Ferhad Şami spricht von einer strategischen Aktion und warnt vor großer Gefahr.

Ferhad Şami hat sich als Pressesprecher der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) im ANF-Interview zu dem Angriff der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) auf das Sina-Gefängnis in Hesekê und die Ignoranz der in der Region entstandenen Gefahr durch die internationalen Mächte geäußert.

Bei der versuchten Befreiung der inhaftierten Islamisten in Hesekê handelt es sich um den größten Angriff des IS seit der Zerschlagung seiner Territorialherrschaft im Frühjahr 2019. Warum ist es Ihrer Meinung nach gerade jetzt dazu gekommen?

Bei diesem Angriff handelt es sich nicht um eine gewöhnliche Situation. Die Lage ist sehr ernst und gefährlich. Es geht nicht um einen lokalen Vorfall, sondern um eine strategische Aktion. Der IS will sich wiederbeleben. Wir betrachten den Angriff als Wiederbelebungsversuch sowohl des IS als auch der Kräfte, die hinter ihm stehen. Daher bewerten wir die Situation als äußerst gefährlich. Wir haben ständig vor dieser Gefahr gewarnt. Der IS wird seine Angriffe voraussichtlich auch in der kommenden Zeit fortsetzen. Er wollte nicht nur einige Mitglieder befreien, eine solche Einschätzung wäre falsch. Die Gefährlichkeit der Situation betrifft neben Nordostsyrien auch Syrien insgesamt sowie den Irak und die ganze Welt.

Halten Sie eine Wiederholung der Zeit von 2014 und eine erneute Territorialherrschaft des IS für möglich? Welche Verantwortung haben die internationalen Mächte in dieser Situation?

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der IS von der aktuellen Lage profitiert und zu der Zeit von 2014 zurückkehrt. Vor allem in den Wüsten- und Grenzgebieten, die nicht von den Sicherheitskräften kontrolliert werden, ist die Wahrscheinlichkeit groß. Das gilt gleichermaßen für Syrien wie für den Irak. Für diese Situation sind die internationalen Mächte verantwortlich. Viele Staaten behandeln den IS als reines Sicherheitsproblem. Es geht jedoch auch um rechtliche Fragen. Solange die Kräfte und Staaten, die den IS unterstützen, nicht angeklagt werden, kann das Problem nicht gelöst werden. An erster Stelle steht die Türkei. Der IS wird nachrichtendienstlich, militärisch und staatlich unterstützt. An diesem Punkt muss Klarheit herrschen.

Nach der Offensive zur Zerschlagung des IS 2019 in Ostsyrien haben die Staaten einen überwiegend individuellen Umgang mit der Situation gepflegt. Einige Staaten wollten ihre Dschihadisten zurückholen und in ihren Herkunftsländern vor Gericht stellen. Sie sind davon ausgegangen, dass sie den IS auf diese Weise zerschlagen können. Der IS ist jedoch eine allgemeine Angelegenheit, die nicht von einzelnen Staaten gelöst werden kann. Es ist auch keine Lösung, wenn einzelne IS-Frauen und ihre Kinder zurückgeführt werden. Als der IS Massaker begangen und große Teile Syriens und des Irak eingenommen hat, handelte es sich nicht um das Vorgehen einer einzelnen Organisation mit einer begrenzten Anzahl von Mitgliedern. Der IS ist im Rahmen einer allgemeinen Organisierung mit einem bestimmten Ziel und einer entsprechenden Strategie entstanden. Es handelte sich nicht nur um Abu Bakr al-Baghdadi und ein paar weitere Personen. Solange die internationale Staatengemeinschaft das Problem auf diese Weise behandelt, wird die Gefährlichkeit des IS immer größer werden. Einige Staaten betrachten den IS auch gar nicht als eigenes Problem, weil er in ihren Ländern bisher noch keine Anschläge verübt hat. Bei dem gestrigen Befreiungsversuch in Hesekê ist jedoch ein weiteres Mal deutlich geworden, dass diese Gefangenen eine große Gefahr für die ganze Welt darstellen.

Hat die internationale Koalition gegen den IS die QSD bei dem jüngsten Vorfall in Hesekê unterstützt?

Die internationale Koalition leistet militärische Luftunterstützung. Das reicht jedoch nicht aus. Vor allem muss die Ursprungsquelle des IS ausgetrocknet werden. Woher bezieht der IS seine Stärke und wer unterstützt ihn? Das muss zuerst festgestellt und bestraft werden.

Die gefangenen Islamisten dürfen auch nicht auf eine Freilassung hoffen. Sie haben Verbrechen begangen und müssen vor ein internationales Gericht gestellt werden. Ein solches Gerichtsverfahren muss hier stattfinden, den der IS hat hier Massaker begangen und Menschen geköpft. Die überlebenden Opfer der IS-Verbrechen sind hier. Ihnen muss Gerechtigkeit widerfahren. Solange ein gleichgültiger Umgang mit diesem Problem gepflegt wird, kann der IS jederzeit wieder aufflammen. Der IS reorganisiert sich sowohl über die Medien als auch direkt vor Ort.

In den vergangenen beiden Tagen hat der IS viel Propaganda über das Internet betrieben. Dabei wurde so getan, als habe er ganz Hesekê eingenommen und kontrolliere das Gefängnis. Diese Propaganda wird auch für die europäischen Staaten zu einem Problem werden. Es werden sich erneut Tausende Menschen auf den Weg machen, um sich dem IS anzuschließen. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass in Europa weitere IS-Zellen entstehen. Der Geist des IS lebt dort weiter. Daher sollte die internationale Staatengemeinschaft eine Neubewertung anstellen. Wir rufen sie dazu auf, diese Angelegenheit nicht nur als ein Problem in Syrien und im Irak zu behandeln. Es geht um ein weltweites Problem. Die IS-Gefahr ist nicht regional begrenzt.

Sie haben von staatlicher Unterstützung für den IS gesprochen. Der Staat, der die größte Unterstützung leistet, ist die Türkei. Inwieweit trägt der türkische Staat zum Wiedererstarken des IS bei?

Der IS wird von mehreren Staaten unterstützt, aber der türkische Staat leistet nicht nur Unterstützung, er führt den IS an. Das ist keine Propaganda, dafür gibt es zahlreiche Belege. Der IS war jahrelang im türkischen Grenzgebiet präsent, der türkische Staat hat ihm seine Türen geöffnet. Über die Grenze bei Girê Spî [Tall Abyad] wurde mit Öl gehandelt, der IS hat offiziellen Handel mit der Türkei betrieben. Die IS-Emire waren in der Türkei. Die aus der letzten IS-Bastion al-Bagouz geflüchteten Islamisten leben heute in der türkischen Besatzungszone zwischen Girê Spî und Serêkaniyê [Ras al-Ain]. Daher sagen wir, dass der türkische Staat den IS anführt. Das ist Teil des türkischen Vorhabens, die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien vollständig zu besetzen.

Auch der Zeitpunkt des Angriffs in Hesekê hat eine Bedeutung. Er hat zum Jahrestag des Beginns der Invasion in Efrîn vor vier Jahren stattgefunden. Vor zwei Monaten hat der IS-Emir Mihemmed Evdo Ewad zu den Plänen hinsichtlich des Sina-Gefängnisses ausgesagt und auch von Girê Spî und Serêkaniyê gesprochen. Die Propaganda des türkischen Staates überschneidet sich mit der des IS. Die Stabilität in Nordostsyrien soll zerstört werden. Daher greift die Türkei manchmal offen und manchmal über die dschihadistischen Gruppierungen an. Das weiß auch die internationale Staatengemeinschaft. Nach dem jüngsten Angriff werden wir Beweise vorlegen, dass der türkische Staat auch darin verwickelt ist.

Wie bewerten Sie es, dass der IS insbesondere im Autonomiegebiet Nord- und Ostsyrien wieder auftaucht? Oder ist er auch in anderen Regionen präsent?

Der IS taucht nicht nur in Nordostsyrien wieder auf. Eigentlich ist er in anderen Regionen noch stärker. In sechzig Prozent der syrischen Wüstengebiete finden Bewegungen des IS statt. Das trifft vor allem auf die Wüsten um Deir ez-Zor, Raqqa, Hama, Damaskus und Siweda zu und reicht bis in die irakischen Gebiete. Der IS kontrolliert in Form eines Rechtecks sechzig Prozent der Wüsten in Syrien. Russland und die Regierung in Damaskus haben keine Kontrolle darüber. Der IS führt Angriffe durch und organisiert sich, vor allem nachts sind diese Gebiete vollständig in IS-Hand. Der IS veröffentlicht entsprechende Aufnahmen. Offensichtlich ist der IS dort sehr aktiv. Da die Kontrolle dieser Gebiete äußerst schwach ist, besteht die Gefahr, dass der IS über die von Damakus kontrollierte Region im Westen von Raqqa einen Korridor in unsere Gebiete schlägt. Vor drei Tagen hat dort ein Angriff stattgefunden, gegen den die russische Luftwaffe interveniert hat. Leider finden diese Interventionen unkoordiniert statt. Das gilt für Damaskus, Russland und sogar den Irak. Beispielsweise stellt der Vorfall im Sina-Gefängnis auch für den Irak eine große Gefahr dar. Bis heute hat es jedoch keine strategische Zusammenarbeit zwischen der irakischen Armee und uns gegeben. Manchmal koordinieren wir uns, aber dieser Austausch ist nie in eine strategische Zusammenarbeit gemündet. Das hat politische Gründe. Der irakische Staat will einen Dialog mit uns vermeiden. Bei einem großen Teil der Islamisten im Sina-Gefängnis handelt es sich jedoch um Iraker.