Peköz: Die Allianz mit dem ENKS setzt Ankara unter Druck

Der Mittelostexperte Mustafa Peköz sagt, dass eine Allianz des Kurdischen Nationalrats ENKS mit der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien das Potential hat, die Türkei auf einen neuen Weg zu zwingen.

Bisher war der Kurdische Nationalrat (ENKS) eines der wichtigsten Standbeine des türkischen Imperialismus in der kurdischen Region in Nord- und Ostsyrien. Der ENKS spielte als „kurdische Organisation“ eine wichtige Rolle bei der türkischen Diffamierungskampagne gegen die nordostsyrische Autonomieverwaltung und dem ENKS nahestehende Milizen beteiligten sich gemeinsam mit protürkischen Dschihadisten an Angriffen auf Ortschaften und Strukturen in der Region. Mittlerweile scheinen sich jedoch immer mehr ENKS-Mitglieder von der Türkei abzuwenden und sich an Gesprächen über eine kurdische Einheit mit den anderen Parteien Nord- und Ostsyriens zu beteiligen. Unter der Teilnahme von 25 Parteien und Organisationen ist der Zusammenschluss „Parteien der geeinten Nation Kurdistan“ (PYNK) gegründet worden. Dieses Bündnis, in dem auch die in Nordsyrien wichtige PYD vertreten ist, hat ein Übereinkommen mit dem ENKS geschlossen. An den Treffen unter Vermittlung der USA nahm auch Mazlum Abdi von den QSD teil. Es sollen weitere Schritte der Annäherung folgen.

Diese Annäherung hat zu heftigen Protesten der türkischen Regierung geführt. Während das AKP-Regime offene Drohungen gegen den ENKS äußerte, griffen türkische Kampfbomber viele verschiedene Orte in Südkurdistan an, darunter Şengal, Mexmûr und Qendîl.

Die Vermittlung der USA und Frankreichs beim Aufbau einer „kurdischen Einheit“ scheint strategischen Zwecken zu dienen. Die Türkei soll in der Region zumindest partiell geschwächt werden. Ein Grund dafür könnte in dem massiven Interessenkonflikt mit der Türkei in Libyen begründet liegen.

Die Nachrichtenagentur Mezopotamya hat mit dem Mittelostexperten Dr. Mustafa Peköz ein Interview über diese Situation geführt, das im Folgenden in exklusiver Übersetzung wiedergegeben wird:

Wie kommentieren Sie die Bemühungen Frankreichs und der USA in Bezug auf eine kurdische Einheit?

Es ist notwendig hervorzuheben, dass die USA und Frankreich einen wichtigen Einfluss auf die Schaffung einer ‚kurdischen Einheit‘ haben. Dies ist ein wichtiger Schritt, insbesondere im Hinblick auf die Konkretisierung der US-Politik in Syrien. Die US-Strategie basiert auf der Perspektive einer mittelfristigen Zusammenlegung der irakischen Region Kurdistan mit Rojava. Aus diesem Grund ist die politische Position, die Rojava erreichen wird, sehr wichtig. Parallel zur Schaffung eines nationalen Bündnisses in Rojava ist es unvermeidlich, dass politische Verhandlungen mit dem Assad-Regime geführt werden, um die Region als autonom oder föderiert zu formalisieren und einen neuen verfassungsmäßigen Status zu schaffen. Man kann sagen, dass es den mittelfristigen Plan gibt, die Machtbalancen in einem Korridor, der die ganze Region Kurdistan von Hatay über Efrîn und Bab bis hin an die türkisch-iranische Grenze in Rêşqelas (türk. Iğdır) einschließt, zu verändern und den irakischen Teil Kurdistans mit Rojava/Nordostsyrien zu vereinen. Damit dieser Plan umsetzbar wird, ist eine Veränderung der Machtverhältnisse und eine Allianz unter den Kurden wichtig. Dieser Punkt wird daher noch stärker auf die Tagesordnung kommen. Eine Allianz unter den Kurden in Rojava und die damit entstehende gemeinsame Kraft ist Voraussetzung für den Erfolg dieser von den USA und der EU festgelegten Regionalstrategie. Die internationalen Mächte wollen auf diese Weise erneut die regionalen Balancen bestimmen und versuchen, die Kurden zu zentralisieren.

Es gab auch aus verschiedenen Kreisen Kritik und Einspruch gegen das Übereinkommen mit dem ENKS. Wir interpretieren Sie diesen Prozess?

Der ENKS hat sich an dem Krieg in Rojava in den letzten zehn Jahren so gut wie gar nicht beteiligt, er hat nicht den geringsten Beitrag zu den Errungenschaften geleistet, deshalb haben viele Parteien und Personen gegen die Einbeziehung des ENKS, der in der Tradition Barzanis steht, protestiert. Dennoch, wenn man die internationalen und regionalen Beziehungen betrachtet, wird die gewichtige Bedeutung der Politik der „nationalen Allianz“ deutlich. Die Wirkung von politischen Parteien oder Kräften, die „klein“ sind, kann größer sein, als wir annehmen. Aus diesem Grund wird die Inkludierung des ENKS in den Prozess die Lösung der Probleme von Nord- und Ostsyrien auf internationaler Ebene beschleunigen und für eine weitere Konkretisierung der Errungenschaften von Rojava sorgen. Wenn sich die Kurden in Rojava vereinen, wird dies auch einen ernsten Einfluss in Südkurdistan haben und dafür sorgen, dass alle kurdischen politischen Parteien, Qendîl eingeschlossen, eine gemeinsame „nationale“ Einheit bilden.

Der ehemalige Sicherheitsberater von Präsident Trump, John Bolton, schreibt, Trump habe sich immer gegen die Kurden gestellt. Dennoch hat das Pentagon seine Unterstützung fortgesetzt und vermittelt jetzt beim Aufbau einer kurdischen Einheit. Wie ist das zu sehen?

Die neuen Schritte in der US-Syrienpolitik bedeuten, dass die Erklärung von Trump, man ziehe sich aus Syrien zurück, keine Bedeutung hat. Das Verteidigungs- und Außenministerium versucht weiter an seiner Strategie festzuhalten. Die Kurden stehen im Zentrum der US-Politik in Syrien und im Irak. Auch wenn sich die Pläne der beiden Länder nicht wie gewünscht umsetzen lassen, so ist es doch möglich zu beobachten, dass der Prozess ohne Pause weitergeht. Ein Schritt dieser Strategie der USA ist ein politischer Status für die Kurden in Syrien. Es ist klar, dass eine solche Strategie, welche die Balancen in der Region von Grund auf verändert, nicht leicht umzusetzen ist und große Schwierigkeiten mit sich bringt. Es werden aber in den nächsten Jahren wichtige Entwicklungen stattfinden, damit das autonome Gebiet in Nordsyrien einen rechtlichen Status erreicht und auf internationaler Ebene Legitimität gewinnt. In einigen Jahren wird ein Prozess beginnen, in dem die Landkarten neu gezeichnet werden.   

Kräfte wie die USA und Frankreich haben den Kurden in der Vergangenheit schweres Unrecht angetan. Was hat sich geändert?

Bei der Inklusion der Kurden in diesen Plan geht es in keiner Weise um Sympathie mit den Kurden oder darum, historisches Unrecht zu korrigieren, es geht alleine um die Interessen der globalen Mächte. Die Beziehungen von internationalen Mächten wie den USA oder der EU hängen eng mit ihren Plänen für die Region zusammen. Wenn man sich die Realität vor Ort, die Machtverhältnisse und Allianzen anschaut, dann können die Kurden sich entweder einen Platz in diesen globalen Machtverhältnissen sichern und dennoch bei sich selbst bleiben oder sie können eine erschütternde Niederlage erleiden. Die Entwicklungen in Rojava zeigen jedoch, dass die Kurden in Syrien politisch richtig manövriert, die Lage richtig interpretiert und sich selbst Freiräume zwischen den Machtbalancen erkämpft haben.

Nach den Treffen für eine kurdische Allianz griff die Türkei Mexmûr, Şengal und Qendîl an. Wie ist das zu verstehen?

Ankara war der Meinung, dass die Trump-Regierung mit Innenpolitik beschäftigt sei und die regionalen Beziehungen der USA in den Hintergrund treten würden. Deshalb weitete Ankara seine Operationen in Rojava und dem irakischen Teil Kurdistans aus. Diese Angriffe werden sich vor dem Hintergrund des Aufbaus einer „nationalen Allianz“ in Rojava und Südkurdistan auch noch ausweiten. Hier soll die Reaktion der USA und Russlands getestet werden und vor den Wahlen in den USA eine neue Position erreicht werden. In dieser Hinsicht können die Angriffe noch größere Ausmaße annehmen. Es wird vermutet, dass die Besetzung weiterer Teile von Rojava auf der Tagesordnung steht.

Welche Folgen hat die Teilnahme des ENKS an den Gesprächen?

Die Aufnahme des ENKS in den Verhandlungsprozess durch die USA und Frankreich ist ein Punkt, an dem der von der AKP geschaffene antikurdische Block zerbrechen wird. Wenn der von Ankara direkt unterstützten ENKS Teil der nationalen Allianz von Rojava wird, dann wird die Türkei zu einer Neubestimmung ihrer Politik gezwungen sein.

Wird Ankara also gezwungen sein, die kurdische Einheit anzuerkennen?

Militärisch ist es für Ankara nicht möglich, eine kurdische Allianz mit Zentrum in Rojava zu zerschlagen. Spätestens im November wird die Türkei gezwungen sein, sich der Regionalpolitik der USA anzupassen. Die Allianz von Rojava wird ein wichtiger Faktor sein, um die Hindernisse der Teilnahme einer kurdischen Delegation an den geplanten Genfer Verhandlungen aus dem Weg zu räumen. Es ist unvermeidlich, dass die Türkei die Existenz der kurdischen Allianz und ihre Teilnahme am Verhandlungsprozess akzeptiert.

Was sagen Sie zu den neuerlichen Sanktionen der USA gegen Syrien?

Dass diese Sanktionen gerade jetzt während der intensiven Anstrengungen der internationalen Koalition um eine kurdische Einheit umgesetzt werden, muss richtig interpretiert werden. Das Embargo, das 39 Personen und Firmen, darunter Assad und seine Ehefrau, einschließt, dient dazu, den Spielraum der Regierung in Damaskus ernsthaft einzuschränken.

Aber warum jetzt?

Vor allem geht es darum, die Firmen aus dem Iran, Russland und China, die Handelsbeziehungen mit Damaskus haben, einzuschränken, und die ökonomische Entlastung, die diese für Syrien geschaffen haben, zu beseitigen. Mit dem Embargo werden diese Handelsbeziehungen unterbrochen. Eines der direkt vom Embargo getroffenen Länder ist der Libanon. So steht das Assad-Regime wirtschaftlich unter Druck und seine Bewegungsfreiheit wird immer weiter eingeschränkt.

Welchen Einfluss haben die Sanktionen auf Nord- und Ostsyrien?

Die Priorität der USA besteht nicht darin, das Assad-Regime von der Macht zu entfernen, sondern politische Beziehungen zur kurdischen nationalen Allianz zu erzwingen und einen diplomatischen Prozess einzuleiten. So soll die offizielle Vertretung der Kurden im Genfer Prozess sichergestellt und der Status der Kurden in Form von Autonomie oder Föderation in der neuen Verfassung formalisiert werden. Mit der Akzeptanz des politischen Status der Kurden in der neuen Verfassung werden die Vereinigten Staaten wahrscheinlich ihr Embargo gegen Damaskus aufheben.