NAV-YÊK: Erst der IS und jetzt der türkische Staat

Der ezidische Dachverband NAV-YÊK verurteilt den Abriss eines ezidischen Trauerhauses in Nisêbîn durch den türkischen Staat und macht auf die fortgesetzte Verfolgung der Glaubensgemeinschaft aufmerksam.

In einer schriftlichen Erklärung verurteilt der Zentralverband der ezidischen Vereine in Deutschland (NAV-YÊK) die Zerstörung eines ezidischen Kultur- und Religionshauses durch das AKP-Regime im nordkurdischen Nisêbîn (Nusaybin) im Südosten der Türkei.

Wir dokumentieren Auszüge aus der Erklärung:

„Ein von der ezidischen Bevölkerung errichtetes Kultur- und Religionshaus im nordkurdischen Nisêbîn wurde von der türkischen Zwangsverwaltung der Stadt mit Baggern abgerissen. Im Dorf Efşê (Kaleli) in der Umgebung des Bagok-Berges leben seit einigen Jahren wieder Ezid*innen. Einige waren nach ihrer Vertreibung in den 1980er Jahren zurückgekehrt und hatten einige wichtige Gebäude, unter anderem ein Empfangshaus für Trauerzeremonien, errichtet. Dieses Gebäude wurde am 18. Mai 2018 von der zwangsverwalteten Stadtverwaltung von Mêrdîn (Mardin) abgerissen. Die Bewohner sowie der HDP-Abgeordnete von Mêrdîn, Ali Atalan, bestätigten die Zerstörung.

Die Bilder und Videos von der Zerstörung des ezidischen Kulturgutes sind seit Tagen in den sozialen Medien sowie in kurdischen Medien zu sehen.“

Zorn und Trauer

„Die Zerstörung des ezidischen Kultur- und Religionshauses in dem Dorf Efşê hat bei den Eziden weltweit zu Zorn und Trauer geführt. Dieser Akt des Zwangsverwalters der Stadt Mêrdîn ist menschenverachtend und zeigt die Haltung des AKP-Regimes gegenüber Andersgläubigen. Die Eziden betrachten das Handeln der türkischen Regierung als einen massiven Angriff auf das gesamte Ezidentum und auf alle Eziden weltweit.

Wieder einmal sind Eziden die Zielscheibe für Despoten und Islamisten

Wir erinnern uns: Am 3. August 2014 hat sich das Schicksal der Eziden, einer Glaubensgemeinschaft unter den Kurden, in Şengal (Nordirak) binnen kürzester Zeit schlagartig verändert. Der sogenannte Islamische Staat (IS) hat die Eziden am besagten Tag mit dem Ziel, die Eziden auszulöschen, barbarisch und feindselig angegriffen. Männer und Kinder wurden geköpft, Frauen wurden vergewaltigt, verschleppt und versklavt. Der Großteil dieser friedlichen Glaubensgemeinschaft wurde zwangsislamisiert. Noch immer sind tausende ezidische Frauen und Mädchen in den Fängen der terroristischen Mörderbanden und werden auf Sklavenmärkten verkauft.

Dies geschah vor den Augen der Menschheit und der internationalen Staatengemeinschaft. Im 21. Jahrhundert haben die Eziden einen Genozid und Feminizid erleiden müssen, der verheerende Folgen mit sich gebracht hat und weiterhin mit sich bringt. Die Eziden bezeichnen diesen versuchten Völkermord als den 73. Genozid. Tausende Menschen wurden ermordet und mehrere Hunderttausend Menschen sind aus ihrer Heimat nach Europa und in andere Länder geflüchtet. Die Weltmächte wie NATO, UN, EU, USA etc. haben tatenlos zugesehen. Die Folgen des Krieges sind immer noch in Şengal zu spüren. Die Stadt Şengal und die umliegenden Dörfer sind zerstört und wurden zu Ruinen gemacht. Viele Gegenden sind noch vermint.

Der Genozid sollte noch weiter gehen

Nach dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des türkischen Militärs und der islamistischen Terrorbanden auf den Kanton Efrîn (Rojava/Nordsyrien) drohte der türkische Präsident R.T. Erdoğan, auch Şengal anzugreifen. Bislang konnte ein Angriff auf Şengal vermieden werden. Infolge des Angriffskrieges auf Efrîn mussten wieder Tausende von Eziden aus ihren Dörfern flüchten und ihre Heimat verlassen. Mehrere ezidische Kulturgüter und heilige Stätten wurden bombardiert und dem Erdboden gleich gemacht.

Auch dies geschah vor den Augen der Öffentlichkeit. Doch wenn es um die Eziden geht, spielen wir gerne die „drei Affen“: nichts sehen – nichts hören – nichts sagen. Wir verurteilen dieses Verhalten und rufen zur Menschlichkeit auf.“

Die Situation der ezidischen Bevölkerung in der Türkei

„Seit Jahren führt die mittlerweile sehr islamistisch geprägte Türkei eine Vertreibungspolitik gegen die Eziden. Das Ezidentum wird bis heute in der Türkei nicht anerkannt. Eziden müssen ihre Identität leugnen oder sie sind Gefahren durch radikale Islamisten ausgesetzt. Anfang der 80er Jahre bis Mitte der 90er Jahre sind Tausende von Eziden aufgrund der Unterdrückung und Diskriminierung durch den türkischen Staat nach Europa, insbesondere nach Deutschland, geflüchtet. Die Eziden haben weit entfernt von ihrer Heimat in der Diaspora Zuflucht gefunden. Aufgrund des damaligen Friedensprozesses zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und der türkischen Regierung sowie aufgrund der Entstehung prokurdischer Parteien wurde auch die Stimme der Eziden so langsam ‚erhört‘. Zumindest hat der Staat ihre Existenz ‚bestätigt‘. Dieser Lockerungsprozess führte dazu, dass viele Eziden in ihre Dörfer zurückgekehrt sind, um sich wieder eine Existenz aufzubauen. Auch sind zwischenzeitlich in der HDP (prokurdische Partei in der Türkei) ezidische Parlamentarier vertreten. Der türkischen Regierung ist diese Entwicklung jedoch schon seit Jahren ein Dorn im Auge, zumal die Eziden bzw. das Ezidentum als der ursprüngliche Glaube aller Kurden betrachtet wird. Denn erst durch das Osmanische Reich sind die Kurden zwangsislamisiert worden. Ein Rest der Kurden konnte den Glauben des Ezidentums seither beibehalten und mündlich überliefern.

Das Ziel der türkischen Regierung ist es, alle Eziden aus der Türkei komplett zu vertreiben, so dass eine Rückkehr in ihre Heimat ausgeschlossen wird. Auch dieses Handeln ist ein weiterer Beitrag der türkischen Regierung zum sogenannten Säuberungskrieg.“

Appell an die Bundesregierung

„Wir, der Zentralverband der ezidischen Vereine, möchten diesen Akt der Unmenschlichkeit in die Öffentlichkeit tragen, um die Bevölkerung über die Barbarei des AKP-Regimes zu informieren. Des Weiteren erwarten und hoffen wir, dass die Politik in Deutschland sich mit der Zerstörung des Kultur- und Religionshauses in Efşê befasst und den Eziden Hilfe leistet. Eine politische Auseinandersetzung darüber ist notwendig. Seit dem Genozid vom 3. August 2014 leben schätzungsweise um die 250.000 Ezidinnen und Eziden in Deutschland. Als ein Teil der Bevölkerung Deutschlands möchten wir, dass unsere Stimme von der Politik erhört wird.

Wir betonen die dringende Notwendigkeit, die Anerkennung der Eziden und des Ezidentums als eine ‚Minderheit‘, die dringend internationalen Schutz im Nahen Osten benötigt, um diesen Jahrtausende alten Glauben mit seinen bedeutenden Monumenten und kulturellen Artefakten zu erhalten.“