Momentaufnahme der türkischen Invasion in Rojava

Die Internationalistische Kommune von Rojava analysiert die aktuelle Situation in Rojava in einer Momentaufnahme der türkischen Invasion: Es geht um imperialistische Pläne, diplomatische Spiele und revolutionären Widerstand.

Am 9. Oktober begann die Türkei mit ihrem langangekündigten Angriffskrieg gegen die befreiten Gebiete Nordostsyriens. Nachdem die Vereinigten Staaten von Amerika die Besatzungspläne des AKP/MHP-Regimes mit ihrem übereilten Truppenabzug bestätigten, regneten um 16 Uhr Ortszeit die ersten Fliegerbomben auf die Städte und Dörfer Rojavas nieder. Die faschistische türkische Besatzungsarmee und ihre islamistischen Hilfstruppen setzten sich unter dem Feuerschutz der pausenlos donnernden türkischen Artillerie in Bewegung und überschritten noch in derselben Nacht die Grenze. Der Vorstoß der Besatzungstruppen konzentrierte sich vor allem auf die Gebiete in der Umgebung der beiden Städte Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras-al-Ain).

Doch der Angriff blieb bei weitem nicht nur auf den kleinen Streifen zwischen den beiden Städten beschränkt. Wahllos wurden Dörfer und Städte entlang der gesamten Grenzlinie zum Ziel der türkischen Artillerie und Luftangriffe. Die Strategie der Türkei war vom ersten Moment des Krieges klar erkennbar. Mit den ersten Angriffen, die zeitgleich an der gesamten Grenze erfolgten, sollte vor allem die Zivilbevölkerung getroffen und in Angst und Schrecken versetzt werden. Das Leben sollte zum Stillstand gebracht und so die Menschen zur Flucht gezwungen werden. Gezielt wurden Lebensmitteldepots und Kornspeicher, Bäckereien, Wasseraufbereitungsanlagen, Pumpstationen, Krankenhäuser und weitere kritische Infrastruktur unter Beschuss genommen. Doch wo immer die faschistischen Aggressoren es wagten den freien Boden Rojavas zu betreten, wurden ihre Angriffe mit heftigen Vergeltungsschlägen beantwortet. Die Bevölkerung Rojavas und die Demokratischen Kräfte Syriens standen geschlossen gegen alle Angriffe und leisteten einen historischen Widerstand. Der Feind hatte nicht mit einem derartig heftigen Widerstand gerechnet und die entschlossene Gegenwehr der Bevölkerung und ihrer Verteidigungskräfte brachte den Vormarsch der Besatzungsarmee ins Stocken.

Epos des Widerstands

Das Regime in Ankara hatte damit gerechnet, Girê Spî und Serêkaniyê in einem Handstreich zu nehmen und sich danach den verbliebenen Gebieten Rojavas zuzuwenden. Konfrontiert mit ihrer eigenen Niederlage und rasend vor Wut über den ungebrochenen Willen der Völker Nordostsyriens, griffen sie mit aller Brutalität und auf barbarische Art und Weise die Zivilbevölkerung an. Mit Luftangriffen und Artillerie wurden hunderte Zivilisten massakriert. Dutzende verbrannten lebendig im Feuer des weißen Phosphors auf Girê Spî und Serêkaniyê. Unzählige Menschen wurden verletzt und verstümmelt. Doch trotz aller Widrigkeiten leistete das winzige Serêkaniyê zwölf Tage lang heldenhaften Widerstand. Eine Kleinstadt mit gerade einmal 30.000 Einwohner*innen brachte die zweitgrößte NATO-Armee mitsamt ihrer hochentwickelten Kriegstechnologie und Feuerkraft ins Straucheln und das faschistische Erdogan-Regime zum Verzweifeln. Abgeschnitten von ausreichendend Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung, ausgestattet lediglich mit leichten Waffen und knapper Munition, hielten wenige hundert mutiger Frauen und Männer gegen die Invasion stand. Die Verteidiger von Serêkaniyê haben ein Epos des Widerstandes geschrieben, der niemals mehr in Vergessenheit geraten wird.

Vor den Augen der fortschrittlichen Menschheit

Doch je länger die barbarischen Angriffe der faschistischen Invasoren gegen die Demokratische Föderation Nordostsyriens andauerten, sah die Welt ihre Verbrechen in aller Klarheit. Die Bilder der Hinrichtungen wehrloser Zivilist*innen, unter ihnen auch die kurdisch-syrische Politikerin Hevrin Khelef, verbreiteten sich in den internationalen Medien und sorgten für Entsetzen. Die Schreie der verbrannten Kinder Serêkaniyês hallten um die Welt und stellten die türkische „Operation Friedensquelle“ vor den Augen der fortschrittlichen Menschheit bloß. Die internationalen Proteste begannen zu wachsen und nach und nach sahen sich die Nationalstaaten Europas und auch die imperialistischen Weltmächte unter dem Druck ihrer eigenen Bevölkerung gezwungen, sich zu positionieren. Auch Russland musste in dieser Situation letztlich handeln.

Lange Zeit schon verfolgte Russland die Politik, der Türkei den Boden für ihren Angriff zu bereiten, in der Hoffnung, die Revolution von Nordostsyrien geschwächt vom Kampf gegen die türkischen Besatzer zur Kapitulation vor Damaskus zu zwingen. Während die Russische Föderation in der Vergangenheit jeglichen Dialog zwischen dem Baath-Regime und der Selbstverwaltung sabotierte, ließ sie mit dem Beginn der türkischen Invasion den Raum für erste Gespräche – hoffte sie doch, für sich gute Verhandlungsbedingungen vorzufinden. Auch innenpolitisch stieg der Druck auf die Regierung Assads, der türkischen Invasion im Norden des Landes Einhalt zu gebieten. So kam es am fünften Kriegstag zu einem ersten militärischen Abkommen zwischen der syrischen Zentralregierung und der Demokratischen Föderation.

Gemeinsame Landesverteidigung

Während die westlichen Medien schon in lautesten Tönen das Ende der Revolution und der Selbstverwaltung verkündeten und verzweifelte Journalist*innen aus Angst vor den angeblich anrückenden Assad-Truppen das Weite suchten, erklärte die Selbstverwaltung, dass das Abkommen der gemeinsamen Landesverteidigung dienen soll. Bevor ein weiterer politischer Dialog über die Zukunft Syriens geführt werden kann, muss zuallererst die Einheit des syrischen Territoriums gewährleistet sein. Weil ein solcher politischer Dialog nicht unter den Bedingungen einer ausländischen Invasion in Syrien geführt werden kann, steht an erster Stelle die Zerschlagung der Besatzung. Aus diesem Grund hat das militärische Abkommen, trotz der mittlerweile vollständig abgeschlossenen Stationierung der syrischen Grenzschutzeinheiten entlang der gesamten Grenze zur Türkei, keinerlei Auswirkungen auf die Administration oder das Leben der Zivilbevölkerung. Eine schnelle Verlegung von Einheiten der Syrischen Arabischen Armee ließ allerdings auf sich warten und blieb lange Zeit nur auf Gebiete südlich der 30-Kilometer-Zone begrenzt.

Lippenbekenntnisse und Erklärungsnot

Auch die europäischen Staaten begannen sich zu positionieren und verurteilten teils den türkischen Einmarsch verbal aufs schärfste. Zu entscheidenden Schritten wie einem gemeinsamen Handels- oder Waffenembargo gegen die Türkei konnten sich die Staaten der Europäischen Union dann letztlich aber nicht durchringen. Zu sehr standen dem vor allem die Interessen von Großexporteuren wie der Bundesrepublik Deutschland entgegen.

Blieb es zwar meist nur bei Lippenbekenntnissen und leeren Versprechungen, die letztlich nur der Beschwichtigung der kritischen Öffentlichkeit dienten, so stieg dennoch der Druck auf Erdogan und Trump. Selbst innerhalb der US-amerikanischen politischen Öffentlichkeit stand Trump mit seiner Position zunehmend isoliert da und sah sich selbst mit harscher Kritik auch aus dem republikanischen Lager konfrontiert. Das Regime Erdogans und Bahcelis hatte sich für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu verantworten, geriet in Erklärungsnot und versuchte verzweifelt mit Lügen und psychologischer Kriegsführung die eigenen Verbrechen zu legitimieren. Um sich aus dieser verzwickten Situation zu befreien und die öffentliche Empörung herunter zu kochen, entwickelten das Erdogan-Regime und die Administration Donald Trumps einen neuen Plan und verkündeten am neunten Kriegstag einen Waffenstillstand.

Abgekartetes Theaterstück

Hierbei spielten sich die US-amerikanischen Imperialisten als Unterhändler und Schutzpatron der Revolution von Nordostsyrien auf, die Türkei ließ Gnade walten und verkündete in ihrer großen Güte einen Abzug der Selbstverteidigungskräfte aus dem 120 Kilometer langen Landesstreifen zwischen Serêkaniyê und Girê Spî. Donald Trump erklärte sich kurzerhand zum größten Mitteloststrategen in der Geschichte der Vereinten Nationen und behauptete gar, die kurdische Frage gelöst zu haben. Was am Abend des 17.Oktobers über die Bildschirme der Welt flimmerte, war nichts weiter als ein billig abgekartetes Theaterstück, das keinen anderen Zweck verfolgte als die Legitimation der Besatzung. Die Besatzungszone wurde als Status quo anerkannt und die Verteidigungskräfte, die die einzig legitime Kraft in dem Gebiet darstellten, wurden zum Rückzug aufgefordert. Gleichzeitig konnten Trump und Erdogan sich angesichts des Ansturms der kritischen Öffentlichkeit etwas Luft verschaffen und die Medien begannen das Thema herunterzuspielen. Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) erklärte als größter Dachverband der kurdischen Befreiungsbewegung, dass der Deal zwischen Trump und Erdogan weder moralisch noch politisch eine Legitimität besitzt und Widerstand die einzige Option ist, die angesichts des internationalen Komplotts, das gegen die Revolution von Rojava und ihre Errungenschaften gesponnen wurde, noch bleibt.