Leben retten, das der IS vernichten wollte

Dr. Akif Kobanê, der seit dem Kampf um Kobanê an allen Offensiven gegen den IS dabei ist, ruft Mediziner und Hilfsorganisationen zur Solidarität mit den Menschen in Nordsyrien auf.

Fast alle, die den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) in Rojava und Nordsyrien verfolgen, haben von Dr. Akif Kobanê gehört. Seit Beginn der Revolution in Rojava arbeitet er im Gesundheitssektor und seit dem Kampf um Kobanê behandelt er sowohl die Zivilbevölkerung als auch die Kämpferinnen und Kämpfer im Kriegsgebiet. Nach der Befreiung von Kobanê war er einer der Ärzte, die den Kämpfenden auch bei den Offensiven in Hol, Şeddade, Raqqa, Tabqa und Dêra Zor zur Seite stand.

Wir treffen Dr. Akif nach Dêra Zor in Qamişlo wieder. Er will nach Şehba gehen, um an der medizinischen Versorgung Hunderttausender aus Efrîn geflohener Menschen mitzuarbeiten. Bereits zu Beginn der türkischen Militärinvasion wollte er sich als Mediziner am Widerstand von Efrîn beteiligen, aber das Gesundheitskomitee lehnte seinen Vorschlag ab.

Akif Kobanê widmet sich voll und ganz dem Dienst an der Menschheit gemäß des hippokratischen Eids. Dafür wird er von den Kämpferinnen und Kämpfern der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und der Bevölkerung sehr geliebt. In der kurzen Zeit, die wir zusammen verbringen, hört sein Telefon nicht auf zu klingeln. „Doktor, wo bist du, wie geht es dir?“, wird am anderen Ende der Leitung gefragt.

Für ANF hat sich Dr. Akif Kobanê zu seinen Beweggründen, als Arzt auf den nordsyrischen Kriegsschauplätzen zu arbeiten, sowie zu den Schwierigkeiten und der Bedeutung seiner Tätigkeit geäußert.

„Der Krieg begann und es gab so wenige Ärzte“

Als mit Ausbruch des Syrien-Krieges und der Revolution von Rojava der Bedarf nach ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten anstieg, brach Dr. Akif sein Medizinstudium ab und begann mit seiner Arbeit im Gesundheitssektor. „Seit 2011 herrscht in Syrien Krieg. Und seit fast acht Jahren findet ein revolutionärer Prozess statt. Bekanntlich wirken die verschiedenen Völker Nordsyriens gemeinsam und kollektiv an der Revolution von Rojava mit. Als ich an der Universität war, brach der Krieg aus und ich konnte nicht weiterstudieren. In Rojava fanden heftige Kämpfe statt und es gab viel zu wenige Ärztinnen und Ärzte. Im Gesundheitssektor bestand großer Bedarf an ausgebildeten Kräften. Daher habe ich mich damals angeschlossen.“

Seinen ersten großen Einsatz im Krieg erlebte Dr. Akif 2014/2015 im Kampf um Kobanê. Auch danach blieben er und sein Team ständig an der Seite der kämpfenden Einheiten der YPG/YPJ und der QSD. Aus diesem Grund ist er überall bekannt und genießt große Wertschätzung. Von seinen ersten Erfahrungen im Krieg berichtet er:

„Bekanntlich hat der IS im September 2014 Kobanê angegriffen. In dieser Zeit waren wir dort in der medizinischen Versorgung tätig. In Kobanê fanden wirklich sehr heftige Kämpfe statt, die viele Opfer forderten. Der IS ist ein Feind, der keinerlei Rücksicht auf Menschenrechte und ethische Werte nimmt. Nach der Befreiung Kobanês war der IS überall in Nordsyrien verhasst. Mit weiteren Freundinnen und Freunden aus dem Gesundheitssektor zusammen habe ich mich entschlossen, die gegen den menschenverachtenden IS kämpfenden Einheiten der YPG/YPJ und der QSD weiter zu begleiten. Wir gingen bis nach Minbic, und als die Region vom IS befreit war, weiter nach Raqqa und dann nach Dêra Zor. Hier ist der IS jetzt auch schon fast vernichtet, er hält noch etwa sechs bis sieben Dörfer.“

Als Arzt an der Front

Den Unterschied zwischen der ärztlichen Tätigkeit im zivilen Leben und an der Front erklärt Dr. Akif so: „Im Krieg müssen Ärzte einfach viel schneller sein. Als ziviler Arzt müsste ich vielleicht nur alle paar Tage eine normale Operation durchführen, aber an der Front haben wir ununterbrochen operiert und erste Hilfe geleistet. Es ist sehr hart, mitzuerleben, wie der IS die Menschen niedermetzelt. Wir haben Kinder gesehen, die auf grausamste Weise getötet worden sind. Ich bin als Arzt in diesem Krieg, aber manchmal habe ich mir gewünscht, kein Arzt zu sein.“

Leben retten trotz mangelnder Ausstattung

Dr. Akif verweist auf die äußerst eingeschränkten medizinischen Möglichkeiten an der Front im Kampf gegen den IS und sagt: „Trotzdem hat das Vorhandensein von Ärzten an der Front schon viele Leben gerettet.“

Zwar könnten direkt an der Front keine komplizierten Operationen durchgeführt werden, aber oft gehe es darum, lebensgefährliche Blutungen zu stoppen und erste Hilfe zu leisten: „An der Front werden täglich verletzte Kämpferinnen und Kämpfer zu uns gebracht. Je nach Art der Verwundung versuchen wir als erstes, den Tod der Verletzten zu verhindern. Bei manchen muss die Blutung gestoppt werden, andere müssen sofort mit Blut versorgt werden und in anderen Fällen muss eine Notoperation stattfinden. Anschließend schicken wir die Verletzten in die Krankenhäuser in den Städten.“

Aufgrund des bestehenden Embargos der Staaten gelangt die notwendige medizinische Ausrüstung nicht nach Nordsyrien, fährt Dr. Akif fort: „Zum Beispiel brauchen wir Blutreserven, aber es fehlen die notwenigen Geräte, um Blut aufzubewahren. Trotzdem retten die Ärztinnen und Ärzte Leben an der Front, aber es sind viel zu wenige.“

Eine heilige Aufgabe

Keiner der Ärzte im Kriegsgebiet habe einen materiellen Profit durch seine Tätigkeit, aber es handele sich um eine heilige Aufgabe, Leben zu retten und etwas für die Bevölkerung tun zu können, betont Dr. Akif: „Ich habe außerdem sehr viele wertvolle Menschen im Krieg kennengelernt und hatte die Gelegenheit, sie medizinisch zu behandeln. Der Kampf, den die YPG/YPJ und die QSD trotz fehlender technischer und anderer Voraussetzungen leisten, lässt sich nicht mit wenigen Worten beschreiben. Als der IS Kobanê angegriffen hat, wusste die ganze Welt, dass hinter dem IS diverse Staaten stehen, insbesondere die Türkei. Die Menschen zu behandeln, die gegen einen solchen Feind die Menschheit verteidigen, hat einen sehr hohen ideellen Wert für uns. Mit diesem Gefühl erfüllen wir unsere Aufgabe trotz aller Schwierigkeiten und freiwillig.“

„Doktor, sing mir ein Lied vor“

Bei seiner Tätigkeit als Arzt im Kriegsgebiet hat Dr. Akif unvergessliche Momente erlebt: „Es ist emotional sehr schwierig, wenn Verletzte gebracht werden, die einen Arm oder ein Bein verloren haben und wir es ihnen sagen müssen. Einmal wurde im Dorf Muğrup in Kobanê eine YPJ-Kämpferin verletzt. Sie hieß Ezda und hatte eine Hand und einen Fuß verloren. Sie war eine Frau, die sich für ihr Volk geopfert hat. Obwohl sie unglaubliche Schmerzen hatte, klagte sie überhaupt nicht. Wir luden sie in den Krankenwagen und ich fragte sie, ob sie Schmerzen habe und etwas brauche. Sie sagte: ‚Ich möchte überhaupt nichts, ich will nur, dass du mir ein Lied vorsingst.‘ Ich hatte in meinem ganzen Leben noch kein Lied vorgesungen, aber für diese Kämpferin sagte ich ein Gedicht auf. Wir brachten sie ins Krankenhaus, aber sie ist drei Tage später gefallen. Unser gesamtes Team war sehr betroffen.“

„Wir brauchen Unterstützung von Hilfsorganisationen“

Die gesamte Bevölkerung Nordsyriens sei arm und die Gesundheitsversorgung unzureichend, so Dr. Akif. Trotzdem werden nicht nur die Kämpferinnen und Kämpfer medizinisch versorgt, sondern auch die Zivilbevölkerung. „Ob Araber, Turkmenen oder Kurden, die Menschen in Nordsyrien sind materiell schlecht gestellt. Wenn sie merken, dass wir auch für sie arbeiten, kommen sie uns näher. Aufgrund der türkischen Besatzung Efrîns leben im Moment Hunderttausende Menschen unter schweren Umständen in Şehba. Ihre Gesundheitsversorgung ist völlig unzureichend. Auch in Raqqa und in Dêra Zor ist die Situation nicht viel besser. Es gibt keine Krankenhäuser und keine Medikamente. In Kobanê, Raqqa, Dêra Zor, Şehba und Efrîn gibt es Hunderte Verletzte, die medizinische Behandlung benötigen. Auch unsere arabischen Geschwister in Raqqa und Dêra Zor sind in einer schwierigen Situation. Es gibt Verletzte, die auch mit einer Operation nicht wieder gesund werden. Daher appelliere ich an alle Institutionen, die sich als Menschenrechts- oder Hilfsorganisationen bezeichnen, den Völkern Nordsyriens bei der medizinischen Versorgung beizustehen und sich solidarisch zu zeigen.“