Der Krieg um Arzach

Es ist schwer vorstellbar, dass sich Aserbaidschan auf irgendeinen Kompromiss in Arzach einlassen wird, wenn die Türkei dagegen ist. Die Türkei ist schließlich nicht nur im Südkaukasus militärisch aktiv, sondern auch in Rojava und Libyen.

Seit dem 27. September 2020 eskalieren die Kampfhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan nach einem groß angelegten aserbaidschanischen Angriff mit türkischer Unterstützung auf die international nicht anerkannte Republik Arzach (Bergkarabach). Die Gefechte entwickeln sich rasant zu den schwierigsten und blutigsten Kämpfen seit den 1990er Jahren. Für ANF hat der armenisch-deutsche Diplomjurist Hovhannes Gevorkian die Hintergründe des Konflikts analysiert:

Die Rüstungsimporte Aserbaidschans schossen dieses Jahr förmlich in die Höhe: Im Vergleich zu 2019 importierte der Staat rund sechsmal so viele Waffen, allerdings nur aus der Türkei. Waren es letztes Jahr noch Rüstungsgüter im Wert von 20 Millionen US-Dollar, sind es allein dieses Jahr schon mehr als 123 Millionen US-Dollar, die von Baku nach Ankara flossen. Auch das hat damit zu tun, dass sich Armenien und Aserbaidschan seit dem 27. September in einem heftigen Krieg um die umstrittene Region Karabach befinden. Seitdem dauert der Krieg an und es kam schon zu tausenden toten Soldaten und hunderten verletzten oder getöteten Menschen aus der Zivilbevölkerung. Daran änderte auch eine unter dem russischen Außenminister Sergej Lavrov in Moskau am 10. Oktober ausgehandelte Waffenruhe nichts. Die Gefechte gehen vorerst weiter und bergen sogar noch die Gefahr einer weiteren Eskalation.

Der Hintergrund

Die Region Bergkarabach oder Arzach, wie es von armenischer Seite heißt, ist ein Gebiet zwischen den beiden Republiken Armenien und Aserbaidschan und war Teil eines intensiven mehrjährigen Krieges Anfang der 1990er Jahre, als beide Länder unabhängig von der Sowjetunion wurden. In diesem Krieg, der mit dem Waffenstillstandsabkommen vom 12. Mai 1994 beendet wurde, kam es zu über 50.000 Toten auf beiden Seiten und rund 1,1 Millionen Geflüchteten. Die armenische Seite konnte dabei nicht nur die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Karabach unter ihre Kontrolle bringen, sondern auch sieben umliegende aserbaidschanische Provinzen. Die Folge davon war, dass etwa 700.000 aserbaidschanische Geflüchtete ihr Zuhause verloren und selbst Jahre danach noch in Unterkünften leben mussten. Auch Armenier wurden aus Aserbaidschan vertrieben oder wie in den Pogromen 1988 in Sumgait oder Baku 1990 zu hunderten ermordet.

Die Logik dahinter war, dass beide Staaten ethnisch homogene Gebiete für sich beanspruchen konnten. Karabach selbst, das zu Beginn des Konfliktes 1988 zu 76 Prozent aus Armeniern bestand, hatte sich schon am 10. Dezember 1991 mit einer sehr großen Mehrheit (über 99 Prozent) für unabhängig erklärt, nachdem es zuvor unter der Verwaltung der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) gestanden hatte. Zwar lag die Wahlberechtigung bei über 82 Prozent, allerdings boykottierte die aserbaidschanische Bevölkerung Karabachs das Referendum. Historisch gesehen haben beide Nationen Wurzeln in dem Gebiet; 1921 jedoch, als über 90 Prozent der Bevölkerung aus Armeniern bestand, wurde das Gebiet auf Anordnung Josef Stalins der Aserbaidschanischen SSR zugeschrieben — ohne Zustimmung oder wenigstens Befragung der lokalen Bevölkerung.

Die ersten Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan reichen sogar schon vor die Gründung der Sowjetunion zurück. Auch 1918 gab es in der Republik Aserbaidschan Massaker an der armenischen Bevölkerung in Baku, als die bürgerlich-nationalistischen Kräfte zusammen mit dem britischen Imperialismus die sozialistische Kommune von Baku stürzten. In den sogenannten Septembertagen wurden bis zu 30.000 Armenierinnen und Armenier von Enver Paschas Armee ermordet. Pascha war einer der Hauptverantwortlichen des Genozids als Generalleutnant und Kriegsminister des Osmanischen Reiches und einer der führenden Jungtürken. Erst die Sowjetisierung beider bürgerlichen Republiken beendete die Ermordungen – und schuf gleichzeitig neue Probleme.

Proletarischer Internationalismus?

Da beide Länder Teil der Sowjetunion wurden, lebten nun die beiden Völker etwa 70 Jahre Seite an Seite und quer über die Sowjetunion wurde der proletarische Internationalismus propagiert. Allerdings sollte nicht der Fehler gemacht werden, zu denken, dass das Zusammenleben nur harmonisch war. Zwar gab es Vorbilder an gemeinsamen Freundschaften und Familien, allerdings bestanden die gegenseitigen Ressentiments untereinander fort. Dazu trug vor allem die Zentralregierung bei, die auch nach dem 2. Weltkrieg ab 1948 in mehreren Phasen zehntausende Aserbaidschaner gen Osten umsiedelte, weil sie befürchtete, dass die Türkei (nun ein Partner des Westens im Kalten Krieg) die aserbaidschanischen Einwohner der Armenischen SSR agitieren und für sich gewinnen könnte. Ein weiterer Grund dafür war auch sicherlich, dass aufgrund der zentralistischen Struktur der UdSSR beide Teilrepubliken regelmäßig in Konkurrenz zueinander standen, was etwa die Beschaffung von staatlichen Mitteln für die jeweilige Region anging. Die sowieso schon vorhandene latente Mangelwirtschaft führte auch dazu, dass die Aserbaidschanische SSR das Autonomiegebiet Karabach über Jahre hinweg diskriminierte und unterfinanzierte.

Im Februar 1988 lehnte sich die Bevölkerung Karabachs in friedlichen Massenprotesten dagegen auf und forderte die Unabhängigkeit oder den Anschluss an die Armenische SSR. Die Aserbaidschanische SSR lehnte das strikt ab und es kam in Sumgait, einer Stadt im Osten des Landes unweit der Hauptstadt Baku, zu einer Explosion der Gewalt und einem Pogrom gegen die dortige armenische Bevölkerung. Die vorhandenen Ressentiments, aber auch die zunehmende interethnische Gewalt schon Monate zuvor, wo auch Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschaner in nordarmenischen Dörfern Opfer wurden, bildeten den Hintergrund für grausame Verbrechen, die am 27. Februar begannen und mehrere Tage anhielten. Das Magazin Spiegel berichtete 1992 rückblickend: „Die Täter seien zum Teil sehr jung gewesen und waren wie schwarze Raben gekleidet und mit Eisenstangen und Beilen bewaffnet", sagte eine Zeugin.

„Armenier, wenn ihr nicht binnen drei Tagen die Stadt verlasst, werden wir euch wie Hunde abschlachten“, stand auf Flugblättern. Sogar in eine Entbindungsstation drangen die Aserbaidschaner ein und massakrierten armenische Wöchnerinnen und die Neugeborenen. Sie hätten geschrien: „Tod den Armeniern! Wir werden euch ausrotten.”

Es kam zu unvorstellbaren Gewaltszenen, die allerdings auch deswegen geschehen konnten, weil die lokalen Behörden passiv blieben. Erst nach Tagen griffen die Truppen des Innenministeriums ein und beschützten auch Armenier vor weiteren Massakern. Danach wurden nahezu alle der 17.000 armenischen Einwohner umgesiedelt. Dieses Massaker, bei dem wohl hunderte Armenierinnen und Armenier ermordet wurden, brannte sich in das Gedächtnis der armenischen Bevölkerung ein und weckte Erinnerungen an den Genozid 1915, bei dem 1,5 Millionen Armenier*innen und Christ*innen im Osmanischen Reich ermordet worden waren.

Die Jahre ab 1988 kennzeichnen aber auch den kommenden Zerfall der Sowjetunion. Die jeweiligen Sowjetrepubliken verschärften immer mehr den Ton untereinander und spätestens als deutlich wird, dass die UdSSR keine Zukunft mehr hat, kommt es auch zu feindseligen Kriegshandlungen. Der Krieg um Arzach, der 1992 an Fahrt aufnimmt, wird mit extremer Härte geführt und führt zu gegenseitigen Deportationen. Armenier werden schon Anfang 1990 wieder Opfer eines Pogroms, diesmal in Baku, wo zu dem Zeitpunkt 200.000 Armenier leben. Es gibt mehrere Dutzend Opfer mit ähnlich grausamen Verbrechen wie in Sumgait und fast alle Armenier verlassen daraufhin die Hauptstadt Aserbaidschans. In Aserbaidschan und speziell Baku kommt es zum „Schwarzen Januar”, einer Welle starker Repression seitens der Zentralregierung, die aber im Endeffekt nur den Nationalismus verstärkt. Die Massaker von Sumgait und Baku reihen sich ein in weitere Pogrome gegen Armenier, so wie zum Beispiel in Kirovabad (heute Ganja) im November 1988 oder Maraga 1992, wo jeweils Hunderte ermordet und die Bevölkerung vertrieben wurde. Auch Aserbaidschaner fliehen aus den armenischen Gebieten und es gibt teilweise einen wortwörtlichen Bevölkerungsaustausch: Seiran Stepanian berichtete einmal dem Südkausus-Experten Thomas de Waal, wie er 1989 Kontakt mit den aserbaidschanischen Behörden aufnahm und Busse und Züge organisierte, um den Bevölkerungsaustausch, der beide Seiten ihrer Heimat entriss, zu vollziehen und gleichzeitig Unterkünfte für die neu ankommenden Geflüchteten organisierte (Thomas de Waal, Black Garden, New York 2003, S. 62: Dieses Buch ist trotz seiner liberalen Ausrichtung zu einem der wichtigsten Werke über den Krieg avanciert. Die Zahlen und Daten sind daher aus diesem Buch entnommen.)

Der Krieg um Karabach wird mit schonungsloser Härte geführt und führt auch im Februar 1992 zu einem Massaker an der fliehenden aserbaidschanischen Zivilbevölkerung in Khoyali, nachdem die aserbaidschanische Armee diese Stadt räumen musste. Zuvor war von dort die Hauptstadt Arzachs (Stepanakert) mit Raketen beschossen worden. Als dann die armenische Seite weitere Städte und Ortschaften einnehmen kann, steht es fest, dass beide Seiten nicht nur erschöpft sind, sondern auch, dass Armenien den Krieg für sich entschieden hat. Das hatte sicherlich auch mit der überlegenen Motivation und Kampfkraft besonders der armenischen Einwohner Karabachs zu tun, aber auch, dass die aserbaidschanische Seite große innere Probleme hatte und selbst am Rande eines Bürgerkrieges stand.

Das Waffenstillstandsabkommen beendete den Krieg — aber es schuf keinen Frieden.

Der Krieg heute

In all den Jahren bis heute schien es nur 2001 so, als sei ein Friedensabkommen nahe. Aber nachdem auch dieser von den USA vermittelte Versuch einer Lösung scheiterte, zog sich der Konflikt hin. Immer wieder gab es kleinere Scharmützel und im April 2016 sogar einen Krieg, der allerdings nur vier Tage dauerte. Der jetzige Krieg ist die schlimmste Eskalation seit 1994, hat gewissermaßen auch einen anderen Charakter und ist eben nicht bloß die Fortsetzung des Krieges aus den 1990er Jahren. Nicht nur der Einsatz von islamistischen Dschihadisten, die aus den von der Türkei besetzten Teilen Rojavas vom türkischen Staat eingeflogen wurden, sogar das türkische Militär selbst, das in Ganja stationiert ist und immer wieder an den Drohnenangriffen aus der Luft teilnimmt, eskaliert den Krieg. Mindestens 600 türkische Militärangehörige befinden sich im Land.

Jene Drohnen, die bislang die gefährlichste Waffe im Krieg darstellen, kommen in erster Linie aus israelischer und türkischer Produktion, wobei es interessant ist, dass die Familie Erdoğan persönlich von diesen Einsätzen profitiert: Die Produktionsfirma gehört dem Schwiegersohn Erdoğans, Selçuk Bayraktar, und die Drohnen werden auch in den kurdischen Gebieten der Türkei eingesetzt. Keine Partei schürt den heftigen Krieg so sehr wie die türkische Regierung: Selbst als in Moskau die Verhandlungen zwischen den beiden Außenministern stattfanden, erklärte das türkische Verteidigungsministerium, dass jeglicher Waffenstillstand „sinnlos” sei, solange Aserbaidschan Karabach nicht vollständig erobert habe.

Ankara betont immer wieder die panturkistische Doktrin, wonach die Türkei und Aserbaidschan „eine Nation, zwei Staaten” seien – obwohl zwischen Türken und Aserbaidschanern wesentliche Unterschiede bestehen und Aserbaidschan sogar niemals Teil des Osmanischen Reiches war. Der Präsident der selbsternannten Republik Arzach, Arayik Harutunyan, erklärte gar, dass „nicht Aserbaidschan, sondern die Türkei Krieg gegen uns führt. Mit seinem militärischen Personal, seinen Waffen und seinen Kampfjets”. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavusoglu erklärte passend dazu am 6. Oktober in Baku, dass die Türkei „bis zuletzt an der Seite Aserbaidschans stehen und wenn nötig, auch als ein Staat handeln” werde, was eine klare Anspielung an die panturkistische Doktrin war. Auch der ehemalige Generalstabschef İlker Başbuğ meldete sich am 23. Oktober zu Wort und sagte, dass es sein „größter Traum sei, die Türkei und Aserbaidschan als einen Staat zu sehen”.

Es ist heute schwer vorstellbar, dass sich Aserbaidschan auf irgendeinen Kompromiss einlassen wird, wenn die Türkei dagegen ist. Die Türkei ist schließlich nicht nur im Südkaukasus militärisch aktiv, sondern auch in Rojava und Libyen: Sie sieht diesen Krieg auch aus Sicht ihres Expansionsbestrebens. Der Rückzug der Türkei ist daher wesentlich, damit die Lage vor Ort deeskaliert und der neuerliche Waffenstillstand vom 18. Oktober auch tatsächlich greift. Ein Waffenstillstand ist dabei die erste Bedingung dafür, dass der Krieg aufhört und damit auch zivile Opfer auf beiden Seiten vermieden werden. Zu lange schon müssen die Menschen im „Schwarzen Gartens”, wie Karabach übersetzt heißt, leiden. Sie sollten endlich in Frieden leben.


*Hovhannes Gevorkian (27) wurde in Jerewan geboren. Der Jurist lebt und arbeitet in Berlin.