Was geschieht in Efrîn?

„Efrîn wurde aufgeteilt und jede Gruppe beherrscht ihr Gebiet. Die verbleibende Bevölkerung von Efrîn wird als Fremde behandelt. Alles hat sich verändert, die Bevölkerung ist nicht mehr wie früher.“

R.H. ist mit seiner Ehefrau und zwei Kindern aus Efrîn nach Şehba geflohen. Er vermittelt Eindrücke über die aktuelle Situation und Stimmung in Efrîn.

Demografische Veränderung geht weiter

Aus Sicherheitsgründen kann R.H. seinen Namen nicht nennen. Er berichtet von der Vertreibung von Tausenden Menschen durch die Besatzungstruppen, an deren Stelle dann Personen aus anderen Regionen angesiedelt worden seien: „Efrîn hat sich vollständig verändert. Die Bevölkerungszusammensetzung ist nicht wie früher. Wir fühlen uns wie in einem fremden Land, wenn wir durch Efrîn gehen. Stellt euch vor, eure Häuser und euer Boden wird von Fremden besetzt, sie beleidigen euch und ihr könnt dagegen nicht die Stimme erheben. Es sind vielleicht noch 20 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung in Efrîn. Die anderen kommen aus Ghouta, Homs, Hama, Idlib und anderen Regionen und wurden an die Stelle der Menschen aus Efrîn, welche die Region aufgrund der Besatzung verlassen mussten, dorthin gebracht.“

„Ghouta gegen Efrîn getauscht“

R.H. berichtet von fortgesetzten Plünderungen und erklärt: „Die, die von außen kommen, schließen sich den Banden an und behandeln uns wie Fremde. Sie sagen, das türkische Militär und die Banden hätten jedem ein Haus und tausend Olivenbäume versprochen, sie hätten Efrîn für Ghouta bekommen. Efrîn ist jetzt wie ihr Eigentum.“

R.H. erzählt, dass die Milizionäre immer mit Schusswaffen und Dolchen bewaffnet unterwegs seien, aber wenn bei Zivilisten aus Efrîn selbst ein kleines Messer gefunden würde, diese schwerster Folter unterzogen werden.

„Der Handel in der Stadt findet in türkischer Lira statt“

Das Leben sei sehr schlecht geworden, die Läden seien geschlossen, weil von ihnen Schutzgeld erpresst wird. Der Handel finde nur noch in türkischen Lira statt, was aufgrund des Verfalls der Währung zu einer massiven Verteuerung der Produkte führe.

500 Dollar Rückkehrsteuer

Menschen, die nach Efrîn zurückkehren wollen, müssen 500 Dollar „Rückkehrsteuer“ entrichten, erklärt R.H.: „Als die Banden zur Rückkehr aufriefen, wollten viele Menschen insbesondere aus der Region Raco zurückkehren. Aber danach stellte sich heraus, dass von den Rückkehrern eine Steuer verlangt wird. Die Milizen verlangen 500 Dollar als eine ‚Rückkehrsteuer‘. Denjenigen, die über ein Auto verfügen, wird eine weitere Steuer abgenommen. Um die Erlaubnis zu erhalten, auf den Feldern zu arbeiten, muss man auch nochmal 200 bis 300 Dollar an die Banden abgeben.“

R.H. erzählt von den alltäglichen Entführungen und Lösegelderpressungen, die sich vor allem gegen Menschen mit einer etwas besseren ökonomischen Situation richten.

„Efrîn wurde unter den Milizen aufgeteilt“

Nach R.H.s Angaben gibt es in Efrîn über 50 verschiedene Milizen. Jede Gruppe hat ihre eigenen Kommandanten und sie behandeln die Zivilbevölkerung ihrem Gusto entsprechend. Jede dieser Gruppen beherrscht ein Stadtviertel. Der Wechsel zwischen zwei Gebieten sei wie der Grenzübertritt zwischen zwei Ländern. An jedem der Kontrollpunkte hat die jeweilige Miliz ihre Fahnen gehisst. Auf der einen Seite hängt die Fahne von Firqat al-Hamza, auf der anderen dann von Sultan Murad, Liwa al-Shamal oder Jabhat al-Shamiya. Das gleiche gilt auch für die Dörfer und Landkreise in Efrîn.

„Überall gibt es düstere Kerker“

R.H. erzählt, jede Miliz habe ihre eigenen Gefängnisse errichtet: „Die entführten Zivilisten werden in diesen Gefängnissen jeder Form von Folter unterzogen. Es gibt außerdem Gefängnisse des türkischen Staates, aber ihre Anzahl ist unbekannt. Die Verschleppten werden auch in Gefängnisse in die Türkei gebracht, andere werden in Gefängnisse der „Schutzschild Euphrat“-Banden geschickt.“

R.H. selbst wurde Zeuge der Entführung von acht Zivilisten. Er berichtet: „Acht Personen, die türkische Soldaten dabei aufgenommen hatten, wie sie eine Sprengung vorbereiteten, wurden aus einem Gebäude verschleppt. Nach zehn Tagen kehrte einer der Entführten zurück. Er konnte sich aufgrund der erlittenen Folter nicht mehr auf den Beinen halten. Er hat uns von der Folter erzählt. Sie haben sie mit Kabeln und Seilen gefoltert, ihnen nur am Morgen ein halbes Brot gegeben und kein Wasser.“

Die Situation der Frauen

R.H. sagt, Frauen könnten sich aus Angst nicht mehr in der Stadt bewegen. Sie seien gezwungen, ihre Gesichter und Häupter zu verhüllen, wenn sie auf die Straße treten. Jeder Frau werde das Recht zugestanden, eine Stunde vor der Tür ihres Hauses zu sitzen. Wer länger draußen bleibe, werde festgenommen. Die Entführungen und Vergewaltigungen von Frauen gingen weiter und die Gefängnisse der Milizen seien zu regelrechten Bordellen geworden.

Olivenprodukte gehen in die Türkei

R.H. fährt fort: „Die Banden hatten vor der Olivenernte gesagt, dass 50 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte ihnen gehören. Danach kam die Entscheidung, dass die türkischen Soldaten auch noch die Olivenprodukte mitnehmen werden.“

YPG und YPJ sind gefürchtet

Aufgrund der Aktionen der YPG und YPJ hätten die türkeitreuen Milizionäre schwere Verluste erlitten und sie fürchteten sich vor dem Widerstand, sagt R.H. und berichtet, dass in den Abendstunden daher eine Ausgangssperre verhängt wurde und sich die Milizen vor allem abends praktisch nicht mehr bewegen könnten. Seinen Bericht schließt er mit den Worten: „Zusammengefasst kann ich folgendes sagen: In Efrîn herrscht große Unterdrückung. Die Kurden werden ausgeplündert und entführt. Seit der türkische Staat den Sold der Banden reduziert hat, haben die Plünderungen gegenüber der Zivilbevölkerung zugenommen. Die Soldaten und Milizionäre holen die Menschen aus ihren Häusern und setzen an ihre Stelle die Familien der Bandenmitglieder.“