Türkei: Verfahren gegen Mitglieder kurdischer Vereine in BRD

Nach Angaben von Anwälten wurden in Ankara mindesten 400 Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder kurdischer Vereine in Deutschland eröffnet.

Die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara führt Verfahren gegen eine Vielzahl von Mitgliedern kurdischer Vereine und demokratischer Bewegungen. Davon sind auch deutsche Staatsangehörige und in Deutschland lebende Menschen betroffen. Immer wieder kommt es bei der Einreise in die Türkei zu Festnahmen. Zuletzt wurde Kadriye Imir in Ankara festgenommen. Die 70-Jährige lebt in Deutschland und ist die Mutter der HDP-Abgeordneten Nuran Imir.

Innenminister gab das Startsignal

Der türkische Innenminister Soylu hatte das Startsignal für die Repressionswelle am 13. März 2019 gegeben, als er erklärte: „Es gibt ja Leute, die in Europa oder in Deutschland an Kundgebungen einer Terrororganisation teilnehmen und dann nach Antalya, Bodrum oder Muğla kommen, um Urlaub zu machen. Für die haben wir jetzt Maßnahmen getroffen." Diese Menschen würden bei der Einreise festgenommen und „ab geht’s mit ihnen", so Soylu. Der Bundesaußenminister Maas hatte diese Äußerungen als „inakzeptabel“ bezeichnet, aber keinerlei Maßnahmen folgen lassen.

Steigende Festnahmezahlen

Nach einem Bericht vom August 2019 ist die Zahl der innerhalb von sechs Monaten in der Türkei festgenommenen deutschen Staatsbürger*innen von 47 auf 62 gestiegen. 38 weitere deutsche Staatsangehörige erhielten eine Ausreisesperre. Aus einer Kleinen Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen geht hervor, dass sich aktuell 59 Deutsche in türkischer Haft befinden.

Ermittlungsverfahren gegen 400 Personen

Anwält*innen und Politiker*innen, die sich mit dem Thema befassen, berichten von mindestens 400 Ermittlungsverfahren gegen Deutsche in der Türkei. Es wird geschätzt, dass mindestens 40 dieser Personen nach der Erklärung Soylus festgenommen worden sind. Das deutsche Konsulat sei über die Festnahmen informiert, schweige aber. Insbesondere deutsche Staatsangehörige kurdischer Identität sind in der Türkei einem hohen Festnahmerisiko ausgesetzt.

Vereinsmitglieder im Visier

Während über die Ermittlungsverfahren Geheimhaltungsverfügungen verhängt werden, geht aus den Verhören hervor, dass es den türkischen Behörden um das Engagement in kurdischen Vereinen und die Teilnahme an Vereinsaktivitäten sowie um dort gehaltene Reden geht.

Der türkische Staat benutzt dabei das Vereinsregister und konstruiert aus der Mitgliedschaft oder der Übernahme von Funktionen in kurdischen Vereinen die „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ oder durch Teilnahme an Kundgebungen „Propaganda für eine Terrororganisation“.

Verfolgung aufgrund vom Verfassungsschutz erhobenen Daten

Die Betroffenen der Repression weisen darauf hin, dass ihre Verfolgung auf der Grundlage von Daten des deutschen Bundesamts für Verfassungsschutz geschehe. Am 2. November 2019 erklärte N.D. gegenüber Artı Gerçek, der türkische Staat habe außerdem auch ein Netzwerk von Informanten in Europa aufgebaut, von dem der türkische Geheimdienst regelmäßig Daten über Oppositionelle im Ausland erhalte.

Die Verhörfragen

Die Betroffenen werden zunächst nach ihren Accounts in den sozialen Medien und vorangegangenen Festnahmen gefragt. Sie werden gefragt, ob sie auf Befehl von „Abdullah Öcalan oder der Terrororganisation“ an irgendwelchen Aktivitäten teilgenommen haben und was sie über den europaweiten kurdischen Dachverband KCDK-E und NAV-DEM in Deutschland wissen, ob sie an Veranstaltungen im Gedenken an „neutralisierte Terroristen der Terrororganisation PKK/KCK-PYD/YPG“ teilgenommen haben und wer an solchen Aktivitäten teilnahm, wer gesprochen und wer Reden gehalten habe. Auch der europäische Demokratische Kongress der Völker (HDK-A) war Thema bei den Befragungen.

Rechtsanwalt Şahin: Ermittlungsverfahren auf Befehl eröffnet

Rechtsanwalt Alişan Şahin berichtet, dass viele seiner Mandant*innen zum Ziel solcher Festnahmen geworden seien und etliche von ihnen eine Ausreisesperre und Meldeauflagen erhalten haben. Aufgrund von Geheimhaltungsverfügungen sei es aber kaum möglich, Konkreteres über die Verfahren herauszufinden. Er erklärt: „Diese Akten sind eine einzige Rechtsverletzung. Die Einheit der Familie wird zerstört. Die Menschen werden ihrer Arbeit beraubt. Es sind keine Ermittlungsverfahren auf rechtlicher Grundlage, sondern auf der Grundlage politischen Drucks, aufgrund eines Befehls.“