Karayılan: Erdoğan hat gepokert und auf ganzer Linie verloren

Murat Karayılan (PKK) äußert sich im Interview zur gescheiterten Militäroperation des türkischen Staats in Gare.

Murat Karayılan, Mitglied im Exekutivkomitee der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), hat sich in einer Sondersendung bei Stêrk TV über die gescheiterte Gare-Invasion der türkischen Armee geäußert. Karayılan, der auch Oberkommandierender des zentralen HPG-Hauptquartiers ist, hob in der am Montagabend ausgestrahlten Sendung hervor, dass es sich beim Angriff auf das südkurdische Guerillagebiet mit dreizehn toten Kriegsgefangenen der PKK nicht um eine gewöhnliche Militäroperation gehandelt habe, sondern um eine auf höchster Ebene unter Beteiligung des Präsidenten, seiner Minister und des Generalstabs geplante Aktion.

Was war das eigentliche Ziel des türkischen Angriffs auf Gare? Wie interpretieren Sie diese vier Tage andauernden Auseinandersetzungen?

Der Krieg um Gare gehört zu den großen Widerständen in unserer Geschichte. Vier Tage lang ist dort mit legendärem Mut gekämpft worden. Ich gedenke an dieser Stelle denjenigen, die diesen epochalen Widerstand geschaffen haben: In der Person des wertvollen Kommandanten Şoreş Beytüşşebap erinnere ich an all unsere selbstlosen Gefallenen. Fünfzehn unserer Freunde haben in Gare einen legendären Widerstand geleistet und sind dabei gefallen. Wir alle stehen in ihrer Schuld. Sie haben diesen historischen Widerstand mit ihrem Mut, ihrer Opferbereitschaft und ihren Anstrengungen erschaffen. Wir erneuern gegenüber allen Gefallenen auch jetzt unser Versprechen, ihr Andenken zu ehren. Sie werden unseren Weg immer erleuchten.

Die Besatzungsoffensive in Gare war keine gewöhnliche Operation. Sie wurde auf höchster Ebene, unter Beteiligung des Präsidenten, seines Kabinetts und des Generalstabchefs geplant. Sie haben sich monatelang vorbereitet. Bekanntlich findet seit sechs Jahren ein Krieg hoher Intensität zwischen uns und dem türkischen Staat und seinen Invasionstruppen statt. Sie konnten diesen Krieg nicht gewinnen und haben ihre Ziele nicht erreicht. Deshalb kam es zu einer Systemkrise. Die Allianz zwischen AKP, MHP und Ergenekon steckt in einer tiefen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und militärischen Krise. Sie alle befinden sich in Gefahr.

Dieser Winter sollte für sie zu einer Gelegenheit werden, Offensiven gegen uns durchzuführen, um so ihr Regime verstetigen. Sie zielten sogar darauf ab, auf der Basis eines schnellen Erfolgs vorgezogene Neuwahlen durchzuführen. In den letzten anderthalb Monaten haben in Nordkurdistan Dutzende von Operationen stattgefunden. Von Serhed über Dersim bis Mêrdîn sind unsere Kräfte angegriffen worden. Aber keine dieser Operationen war erfolgreich. In Mêrdîn hatten wir drei Gefallene, aber darüber hinaus gab es für uns nirgends weitere Verluste. Der Angriff auf Gare sollte der Gipfel dieser Operationen sein. Das Ziel war die Besatzung von Gare, um sich in einem strategisch wichtigen Gebiet dauerhaft niederzulassen. Auf diese Weise wollte der türkische Staat eine starke Position gegen uns und die Kräfte in der Umgebung einnehmen.

Standort der türkischen Gefangenen war bekannt

In Gare wurden einige Gefangene festgehalten, darüber hatte auch der türkische Staat Kenntnis. Mit dem Angriff auf dieses Gebiet wurde beabsichtigt, die Gefangenen zu ergreifen – egal ob tot oder lebendig – und sie für eine Propagandashow zum eigenen Machterhalt zu benutzen. Deshalb wurde dieser Angriff durchgeführt. Die Operation ist auf höchster Ebene vorbereitet worden, aber dennoch fehlte es an Logik. Es wurde ein Risiko in Kauf genommen. Erdoğan hat gepokert und auf ganzer Linie verloren. Ob nun eine Invasion oder die Rettung der Kriegsgefangenen – beides ist den Besatzern in Gare unmöglich. Es handelte sich also um eine vollkommene Niederlage. Eigentlich ging es ihnen auch darum, von bestimmten Vorteilen zu profitieren. Im Winter erzielen Aufklärungsflugzeuge bessere Ergebnisse als sonst, deshalb wollten die Besatzer jetzt zuzuschlagen.

Tatsache ist jedoch auch, dass unsere Kräfte in Gare nicht das gewünschte Maß an Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatten. Das ist dem türkischen Staat aufgefallen. Die Einheiten in Nordkurdistan agieren da anders und bieten in der Regel keine offene Flanke. Als der türkische Staat feststellte, dass unsere Maßnahmen in Gare ein bisschen zu leicht waren, schlug er zu, um Nutzen aus der Situation zu ziehen. Mit einem Überraschungsangriff sollten Ergebnisse erzielt werden. Wie ich am Anfang sagte, leisteten Kommandant Şoreş, unsere Weggefährten Rojhat und Seyfi sowie die anderen großen Widerstand. Vom ersten Moment an versetzten die Freunde den Besatzern einen Schlag nach dem anderen. Als Folge dieses Widerstands steckte der Feind fest. Als er nicht mehr weiterkam, griffen die türkischen Truppen zu völkerrechtswidrigen Mitteln und setzten Giftgas ein. Ihnen gelang es erst am vierten Tag, ins Camp vordringen, denn der Widerstand war zu heftig.

Wäre es Sommer oder hätte es drei bis vier Stunden regnerisches, trübes Wetter gegeben, hätte nicht ein Soldat der türkischen Armee überlebt. Sie wären alle vernichtet worden. Dennoch führte der Widerstand unserer Freunde zu einer großen Niederlage für die türkische Armee. Als sie erkannte, dass sie eingekesselt ist, setzte sie chemische Kampfstoffe ein und ergriff ohne einen Blick zurück die Flucht. Aus Sicht der türkischen Armee war es eine herbe Niederlage.

Erdoğan musste zum ersten Mal sein Scheitern erklären

Erdoğan musste das erste Mal gezwungenermaßen einräumen, dass der türkische Staat versagt hat. Es waren unsere mutigen Freunde in Gare, die ihn dazu gebracht haben. Eigentlich reichen Worte nicht aus, den Widerstand von Gare zu beschreiben. Dieser Kampf hat wichtige Konsequenzen. Wir haben gesehen, auf welche Weise die Guerilla der demokratischen Moderne mit ihren neuzeitlichen Kriegstaktiken Ergebnisse erzielt. Diese Methoden wurden auch in Heftanîn ausprobiert, aber Gare hat ihre Effizienz bewiesen. Nach Angaben der dortigen Kräfte kreisten bei der Operation etwa 20 Drohnen und 41 Kampfjets über dem Gebiet. Auch Hubschrauber und Atak-Flugzeuge griffen immer wieder in das Geschehen ein. Dennoch konnten sie uns keine großen Verluste zufügen. Die türkische Armee hat erklärt, dutzende Orte bombardiert zu haben, aber wir haben nur einen Verlust durch die Luftangriffe, Heval Gelhat. Die anderen Kämpfer sind im Gefecht gefallen.

Solange die Guerilla in spezialisierten Teams entsprechend der neuen Form der Kriegsführung vorgeht, bringen die Technik des Feinds, seine Kameras und seine Aufklärung kein Ergebnis. Das ist für uns ein sehr wichtiges Resultat. Der Feind hat auch so einiges über Gare gesagt. Devlet Bahçeli hat erklärt, man müsse von der Zeit vor und nach Gare sprechen. Gare ist also auch für die Besatzer ein wichtiger Punkt. Sicherlich sagen sie das aus ihrer eigenen Perspektive, aber so ist es auch für uns. Wir müssen auch von der Zeit vor Gare und nach Gare sprechen. Denn mit diesem historischen Widerstand hat eine neue Ära begonnen. Die Antwort auf die Frage, wie Erfolg zu erzielen ist, ist deutlicher geworden. Daher können wir bereits jetzt sagen, dass 2021 kein gewöhnliches Jahr wird. Das neue Jahr hat für uns mit großem Widerstand begonnen. Wir glauben, dass die Methoden und der Geist von Gare das ganze Kampfjahr bestimmen werden. Gare hat zwei wichtige Ergebnisse hervorgebracht: Erstens, die aufopferungsvolle Haltung der militanten Apocî, und zweitens die Methoden der neuzeitlichen Guerilla. Beide Faktoren führten zum Erfolg.

Was sagen Sie zu den Beschuldigungen des türkischen Staates und regierungsnaher Medien, Ihre Bewegung hätte die Kriegsgefangenen hingerichtet? Gerade vor dem offensichtlichen Hintergrund, dass bei einer viertägigen Bombardierung inklusive Giftgaseinsatz etwas ganz anderes dahintersteht?

Es ist zu hundert Prozent offensichtlich, dass diese Operation nicht durchgeführt wurde, um die Gefangenen zu retten. Der Feind wollte sich mitten in Gare niederlassen. Als die türkischen Truppen merkten, dass sie umzingelt sind, mussten sie sich zurückziehen. Selbst einer Person mit geringem militärischen Wissen würde klar sein, dass diese Operation keinen logischen Sinn ergibt. Ist es denn möglich, Gefangene aus einem unterirdischen Lager unter dem Einsatz von Bomben und Giftgas zu befreien? Das ist einfach nur absurd. Die Angriffe, so heftig sie auch waren, sind von Kommandant Şoreş mit Gegenangriffen abgewehrt worden, so dass die türkische Armee sich aus dem Camp zurückziehen musste. Diese Szene hat sich dutzende Male wiederholt: Bombardierungen – versuchte Infiltration – Rückzug. Zum Schluss wurden chemische Kampfstoffe verwendet. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass nichts zur Rettung der Kriegsgefangenen getan worden ist, ganz im Gegenteil. Alle tödlichen Waffen sind zum Einsatz gekommen.

Wie kann man beim Anblick dieses Szenarios noch behaupten, dass es sich um eine Rettungsaktion gehandelt haben soll? Wer darauf besteht, lügt. Es sind skrupellose und rücksichtslose Lügen. Der türkische Staat wollte die Menschen töten, die für ihn selbst gekämpft haben. Warum? Für den Machterhalt. Dafür wurden die Gefangenen geopfert. Wenn Erdoğan ein Gewissen hätte, würde er so etwas nicht tun. So wie die türkische Armee unsere jungen Menschen in Roboskî auf Befehl bombardiert und getötet hat, tat sie dasselbe in Gare. Unsere Bewegung hat noch nie einen Kriegsgefangenen getötet. Wir haben Hunderte Menschen bisher gefangengenommen, aber im Endeffekt wieder ihren Familien übergeben. Es gab immer Vermittlungen. Aber für diese Gefangenen hat es keinen einzigen Vermittlungsversuch gegeben. Warum? Weil es das AKP/MHP-Regime ablehnte. Soweit wir wissen, haben der Menschenrechtsverein IHD und diverse zivilgesellschaftliche Organisationen sich mehrfach an den Staat gewandt, um eine Delegation aufzustellen und bei der Freilassung der Kriegsgefangenen zu vermitteln. Aber die Regierung wollte das nicht. Der IHD hat die Initiative ergriffen, ja, aber ein Aufruf alleine reicht eben nicht.

Ich möchte nochmals unterstreichen, dass niemand an uns herangetreten ist, um die Freilassung der Gefangenen zu erwirken. Ihre Familien sollten sich darüber im Klaren sein. Die kurdische Gesellschaft und die Völker in der Türkei sollen ebenfalls wissen, dass es keinerlei Bemühungen gegeben hat, die Gefangenen lebendig zu befreien. Wir hatten nie die Absicht, jemandem zu schaden. Wir halten uns an das Kriegsvölkerrecht. Die Gefangenen, die wir früher freigelassen haben, bestätigen das. Unsere Freunde haben sich geopfert, um die Gefangenen zu verteidigen. Dafür gibt es viele Beispiele. Wir sehen die Gefangenen als unsere Gäste und so verhalten wir uns ihnen gegenüber. Tayyip Erdoğan und Hulusi Akar sind für diese Operation verantwortlich. Wenn es in der Türkei so etwas wie Rechtsstaatlichkeit gäbe, müssten sie zurücktreten, oder es würde zumindest gegen sie ermittelt beziehungsweise eine Untersuchung zur Niederlage der Operation eingeleitet. Warum werden sie nicht zur Rechenschaft gezogen? Weil die höchsten Kreise die Entscheidung für diese Operation getroffen haben.

Cotyar Muhsin gehörte zu uns

Ich möchte noch etwas klarstellen. Ein Mensch mit dem Namen Cotyar war ebenfalls im Gefangenenlager (einer der dreizehn Gefangenen war irakischer Staatsbürger, ANF). Die Freunde bereiteten seine Freilassung vor. Eigentlich war er kein Gast, sondern gehörte faktisch zu uns. Natürlich waren wir für ihn verantwortlich, aber die Hauptverantwortlichen für seinen Tod sind die türkischen Behörden. Ihre Skrupellosigkeit und Rücksichtslosigkeit haben zu diesem Vorfall geführt.

Unabhängige Untersuchungskommission

Wir haben absolut keine Einwände gegen eine unabhängige Untersuchungskommission, die Ermittlungen in Gare durchführt, im Gegenteil. Der Geruch von chemischen Kampfstoffen ist noch nicht verflogen. Die Leichname unserer gefallenen Freunde befinden sich weiterhin dort, es könnten Proben genommen werden. Wir laden hiermit eine unabhängige Kommission ein, Untersuchungen in der Region anzustellen. Sie kann feststellen, auf welche Weise der faschistische türkische Staat in Gare ein Massaker verübt und seine eigenen Leute ermordet hat und wie unsere Freunde gefallen sind. Verantwortlich für dieses Grauen ist allein der türkische Staat, nicht wir. Wir haben die Gefangenen geschützt.

In Gare hat sich etwas Unmenschliches zugetragen. Unter den Gefangenen waren MIT-Agenten und Polizisten, der türkische Staat aber nannte sie ‚Zivilisten‘. Er ist nicht eingetreten für seine eigenen Leute. Die Gefangenen hatten Briefe (an ihre Angehörigen, ANF) verfasst und gegenüber den Medien ihre Erwartung an den Staat, in dessen Dienst sie lange Zeit waren, geäußert. Aber dieser Staat ist skrupellos und rücksichtslos, ein Staat, der die eigenen Menschen für seine Interessen verschleißt. Das ist die Essenz dieses Ereignisses.

Ich spreche den Familien unserer in Gare gefallenen Freunde und dem kurdischen Volk mein Mitgefühl aus. Unsere Gefallenen sind unsere Symbole, wir stehen in ihrer Schuld. Sie sind es, die diesen epischen Widerstand bewirkt haben. Auch den Familien der getöteten Gefangenen spreche ich mein Beileid aus, insbesondere den Angehörigen von Cotyar. Sie sollten wissen, dass es zu keinem Zeitpunkt unsere Absicht war, ihren Tod in Kauf zu nehmen. Die Verantwortung für dieses Massaker liegt beim faschistischen türkischen Staat und seinen Vertretern.

Zu Beginn des Angriffs auf Gare äußerte der frühere paramilitärische Verantwortliche Abdullah Ağar, die Peschmerga habe ihre Uniform „gewechselt“ und sich an der „Operation der türkischen Streitkräfte“ beteiligt. Er behauptete, die Peschmerga sei der PKK gegenüber feindlich gesinnt. Damit wollte er signalisieren, dass die Gelegenheit günstig ist, um einen innerkurdischen Krieg auszulösen. Was halten Sie von diesen Äußerungen?

Das ist ein wichtiges Thema, das Sie ansprechen. Zunächst möchte ich folgendes festhalten: In historischen Zeiten wie dieser durchläuft unser Kampf für ein freies Kurdistan eine wichtige Phase. Die Kurden haben sich zu einem wichtigen Akteur im Mittleren Osten entwickelt. Sie können ihre nationalen Belange öfter zur Sprache bringen und für sie einstehen. Doch die Feinde des kurdischen Volkes, an erster Stelle ist hier der türkische Staat zu nennen, stören sich hieran und gehen aktiv dagegen vor. Blicken wir nur mal auf Syrien, wo beide Staaten seit zehn Jahren gegenseitig ihr Blut saugen. Die Türkei führt in allen Bereichen Krieg gegen Syrien. Aber sie verhandeln miteinander. Es gibt Gespräche mit Iran und Irak, man besucht sich gegenseitig. Worum geht es dabei? Um die Kurden. Zwischen all diesen Staaten bestehen etliche Widersprüche und Probleme, aber wenn es um die Kurden geht, agieren sie auf einer gemeinsamen Linie.

Auch innerhalb des türkischen Staates gibt es verschiedene Flügel, die im Konflikt zueinander stehen: Rassisten, Nationalisten, Islamisten, Eurasien-Anhänger, treue Untertanen der NATO. Beim Thema Kurden lösen sich Zerwürfnisse in Luft auf, plötzlich verstehen sich alle blendend. Wenn der Krieg gegen die Kurden vorbei ist, wird dieses Regime zusammenbrechen. Denn die alleinige Grundlage der Partnerschaft zwischen Tayyip Erdoğan, Devlet Bahçeli, Doğu Perinçek und Hulusi Akar bildet der Umgang mit der kurdischen Frage. Darüber hinaus herrschen nur Widersprüche zwischen ihnen. Auch in allen anderen Staaten um uns herum gilt dieselbe Devise.

Wenn schon der Feind beim Thema Kurden auf einen gemeinsamen Nenner kommt, warum sollte dann nicht das kurdische Volk eine Einheit bilden? Was spricht dagegen? Wenn wir es gerade in dieser wichtigen Phase versäumen, unsere inneren Probleme zu lösen und keine allgemeine nationale Haltung einnehmen, wird es uns die Geschichte niemals verzeihen. Unser Volk wird auf die Barrikaden gehen. Das Mindeste, das unsere Gesellschaft in diesem Augenblick von der kurdischen Politik erwartet, ist es, zumindest nicht gegeneinander zu agieren. Ihr Wunsch ist jedoch unsere Einheit. Denn es steht fest, dass der Feind an dem Plan arbeitet, einen innerkurdischen Konflikt anzuzetteln, um die Existenz unseres Volkes ein für alle Mal zu beenden.

Abdullah Ağar ist auf Provokationen aus

Bei Abdullah Ağar handelt es sich um einen Top-Kader der psychologischen Kriegsführung. Er tritt mehrmals am Tag im türkischen TV auf und äußert sich. Er ist ein Kurdenmörder durch und durch, auf sein Konto während seiner aktiven Phase gehen unzählige Morde an Kurden. Jetzt provoziert er, indem er behauptet, die Peschmerga habe ihre Kleidung abgelegt und die türkische Uniform übergezogen, weil sie sich von der PKK gestört fühlt. Zu diesem Schwachsinn hatten wir uns bereits geäußert. Er will nur provozieren und beide Seiten gegeneinander aufhetzen. Der von Ağar diesbezüglich verfasste Tweet hat zu Diskrepanzen geführt, die aber nur provoziert wurden, um Zwietracht unter den Kurden zu schüren. Niemand sollte sich darauf einlassen. In dieser Phase sind die Bemühungen für eine nationale Einheit von existenzieller Bedeutung. Wir alle sind in der Verantwortung.

Wir richten laufend Appelle wie diese an die kurdische Gesellschaft. Manche meinen, nur die PKK sei darauf angewiesen. Nein, wir alle brauchen die Einheit. Wir als PKK können unter allen Umständen kämpfen, uns verteidigen und unsere Sache voranbringen. Aber unsere Nation benötigt eine gemeinsame Politik. Deshalb sind auch die Yekgirtû, Goran und Komala sowie alle Parteien in Rojava, Rojhilat und Bakur gefragt. Hier in Başûr ist allerdings vor allem die Haltung der PDK und ihre Beziehung zu uns bedeutsam.

Könnte sich nach der Niederlage des türkischen Staates in Gare eine gemeinsame Verteidigungskraft aus Peschmerga und Guerilla bilden, wenn kurdische Kräfte wie beispielsweise die PDK entsprechende Schritte einleiten würde?

Das ist unser Traum und wir wollen ihn natürlich verwirklichen. Jeder patriotische Kurde hofft, dass dieser Fall eintritt. Dafür sind wir auch offen. Aber zuerst müssen wir unsere Konflikte angehen. Wie gesagt, die größte Verantwortung liegt bei der kurdischen Politik. In dieser Phase sollten Taktik und Engstirnigkeit beiseite gelegt werden, wir müssen strategisch denken. Denn es geht um die Existenz und Nicht-Existenz der Kurden. Ich hoffe, dass es diesbezüglich positive Entwicklungen geben wird.

Der türkische Staat wollte sich mit der Besatzung von Gare ein neues Ass im Ärmel für seine Drohpolitik zulegen. Nicht umsonst wird plötzlich von Zypern, Aserbaidschan oder Kerkûk gesprochen. In Kerkûk geht es ja um nichts anderes wie in Zypern, nämlich eine Ausweitung des Turanismus, des Neo-Osmanentums. Der türkische Staat stellt eine ständige Bedrohung für Araber und Kurden dar. Diese Bemühungen richten sich gegen die Existenz des gesamten kurdischen Volkes. Als Akteure der kurdischen Politik sollten PKK, PDK und alle anderen Parteien diese wichtige Phase berücksichtigen und einen konstruktiven Ansatz entwickeln. Zuerst müssen wir eine positive Haltung einnehmen, damit das, was Sie angesprochen haben, auch geschieht. Wir sind jedenfalls bereit.

Der Feind jedoch will innerkurdische Konflikte und Widersprüche schaffen. Im Grunde geht es um einen neuen Birakujî (Brudermord, ANF). Die faschistische Allianz in der Türkei greift ja nicht nur an, um die PKK zu bekämpfen, sondern richtet ihre Aggression gegen die Errungenschaften des kurdischen Volkes. Ein innerkurdischer Krieg steht auf der Wunschliste des Feindes ganz oben. Das müssen wir begreifen und entsprechend handeln. Die kurdische Politik steht derzeit vor einer schwierigen Prüfung, und ich hoffe, dass sie sie erfolgreich meistern wird. Sie wird es nicht zulassen, dass der Feind hier irgendwelche Pferderennen veranstaltet. Wir haben mehr Möglichkeiten als je zuvor. Der Gare-Widerstand ist ein Beweis dafür. Der türkische Staat präsentiert sich hinter seiner Kriegstechnologie als starke Kraft, aber wir sind stärker. Wir haben eine Realität und eine Haltung, wir kämpfen auf unserem eigenen Land, also wird der Erfolg uns gehören. Die Spielchen des Feindes werden ohnehin im Nichts verlaufen, daran glaube ich tief und fest.

Der ehemalige Geheimdienstleiter des Generalstabs, Ismail Hakkı Pekin, hat die Morde von Paris gestanden und sich dafür ausgesprochen, PKK-Mitglieder in Europa zu ermorden. Es war das Geständnis, dass Attentate in Qendîl schwierig sind, aber in Europa durchgeführt sollten. Wie beurteilen Sie diese Äußerung?

Dahinter steht eine faschistische und rassistische Mentalität. Mit Mordanschlägen soll ein Ergebnis erreicht werden. Der Urheber dieser Äußerung kommt aus dem Ergenekon-Flügel. Diese Leute wollen einen Erfolg erzielen, indem sie Kurden töten und eine Völkermordpolitik in Kurdistan umsetzen. Die PKK ist eine kurdische Angelegenheit, es geht um ein gesellschaftliches Thema. Wir stehen für die Wahrheit. Der 21. Februar ist weltweiter Tag der Muttersprache. Die Muttersprache ist ein natürliches menschliches Recht. Menschen sollten in der Sprache unterrichtet werden, die sie seit ihrer Geburt lernen. Sie sollten mit dieser Sprache leben. Und haben die Kurden dieses Recht? Das ist es, wofür wir kämpfen. In Kurdistan gibt es keine menschlichen Rechte. Wir sollen ausgelöscht werden. Der Kampf, den wir führen, ist ein Existenzkampf. Es ist der Existenzkampf des kurdischen Volkes. Wir können durch Morde nicht vernichtet werden. Das ist immer noch nicht verstanden worden: Die PKK wird durch Morde nicht vernichtet, sie wird noch stärker.

Jetzt heißt es: „Die in Qendîl kommen nicht zum Vorschein, wir können sie nicht töten, dann ermorden wir halt die in Europa. Der MIT hat in Paris gemordet, das sollten wir auch tun.“ Mit Morden soll ein Ergebnis erzielt werden. In Kurdistan wird Terror verbreitet, es finden Massaker statt, auf diese Weise soll etwas erreicht werden. In Kurdistan wird eine Völkermordpolitik praktiziert. Auf diese Weise lässt sich das kurdische Volk nicht auslöschen, die Kurden werden seit neunzig Jahren getötet. Die Gefängnisse sind voller Kurden, Tausende unserer Freundinnen und Freunde sind eingekerkert. Rêber Apo ist im Gefängnis, er steht unter Isolation und psychologischer Folter. Wir werden bis zum Ende Widerstand leisten. Wenn wir fallen, wird unser Platz von anderen eingenommen. Diese Tatsache ist immer noch nicht begriffen worden.

Seit Jahren wird von unserer Vernichtung gesprochen. Bereits 1984 wurde gesagt, dass wir innerhalb von 72 Stunden vernichtet werden. Jetzt sagen sie, wir können die in Qendîl nicht töten, dann lasst uns die in Paris, Berlin oder Brüssel ermorden. Das wird ganz offen gesagt. Wo sind die UN, die Menschenrechtsinstitutionen, der Europarat, der EGMR? Der türkische Staat ist wie ein verwöhntes Kind und das liegt am Schweigen der europäischen Länder und Hegemonialmächten wie den USA.

Frankreich ermutigt zu neuen Anschlägen

Mitten in Paris sind drei wertvolle Freundinnen ermordet worden. Dazu gibt es Dokumente, auch die MIT-Funktionäre, die bei uns in Gefangenschaft sind, haben Geständnisse abgelegt. Es gibt Gesprächsaufnahmen, die veröffentlicht worden sind. Die französische Justiz ist jedoch still. Die Gerichte in Frankreich haben bei den Morden an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez versagt. Und warum? Weil auch der französische Geheimdienst Kontakt mit den an diesem Massaker Beteiligten hatte und das vertuscht werden sollte. Der Attentäter ist ermordet worden, auch das wurde verschleiert.

Der französische Präsident Macron sagt manchmal gute Sachen, er durchschaut Erdoğans Politik ein bisschen. Ich appelliere an Macron: Wenn er will, dass Erdoğans wahres Gesicht zum Vorschein kommt, soll er das Embargo aufheben, dem die französische Justiz zu den Pariser Morden unterliegt. Er soll ein gerechtes, ein wirkliches Gericht veranlassen und die Justiz arbeiten lassen, damit Frankreich nicht davon erdrückt wird. Das ist auch für das Volk Frankreichs ein sehr wichtiges Thema.

Ismail Hakkı Pekin, der die Morde von Paris gestanden hat, ist nicht irgendein General. Er hat es auch nicht nur ein Mal gesagt, sondern später noch wiederholt: Unser Geheimdienst hat die Morde in Paris begangen, das müssen wir wieder tun. Dabei wird er durch die Haltung Europas und Frankreichs ermutigt. Es lagen ja ohnehin Belege vor, dass der MIT die Morde begangen hat, aber Frankreich ist dem nicht nachgegangen und hat die Augen verschlossen. Hier liegt eine Ungerechtigkeit vor und wir wollen Gerechtigkeit. Von Frankreich erwarten wir, dass diese Hoffnung unseres Volkes erfüllt wird.

Nach der Niederlage des türkischen Staates in Gare hat Innenminister Süleyman Soylu über Sie gesagt: „Wenn wir Murat Karayılan nicht erwischen und in tausend Stücke reißen, möge uns ins Gesicht gespuckt werden.“ Halten Sie es für notwendig, diese Aussage über Ihre Person zu erwidern?

In einem normalen Staat würde ein normaler Minister einen solchen Satz nicht sagen. Warum droht er auf diese Weise und benutzt dabei Straßenausdrücke? Erstens hat er eine Niederlage erlitten, die er nicht ertragen kann. Es war eine schwere Niederlage. Das ist einer der Gründe für seinen Ausspruch. Der zweite Grund ist die dahinterstehende Mentalität. Er spricht davon, jemanden in Stücke zu reißen. Dass ein hochrangiger Vertreter so redet, zeigt seine Denkweise. Es ist eine faschistische, mörderische Denkweise. Davon versteht er etwas. Wie ich gesagt habe, auf diese Weise soll die kurdische Frage erledigt werden. Es gibt eine Redensart: Wer sich vor Eisen fürchtet, steigt nicht in die Bahn. Wenn wir den Tod fürchten würden, hätten wir diese Arbeit nicht angefangen. Wir sind die Fedai dieses Volkes und jederzeit zu allem bereit. Wir führen einen legitimen Kampf und solche Drohungen machen uns keine Angst.