Ausreisesperre von Nürnberger Kommunalpolitikerin aufgehoben

Seit 5. Oktober wurde Senem Kartal in der Türkei festgehalten. Nach Interventionen auf verschiedenen Ebenen konnte sie heute ausreisen. Viele, die ihr Schicksal eines Zwangsaufenthalts teilen, hoffen nun auch auf eine zügige Aufhebung der Ausreisesperren.

Wie das Bündnis von Frieden in Kurdistan Nürnberg mitteilt, hat die Kommunalpolitikerin und Gewerkschafterin Senem Kartal nach über drei Monaten die Türkei verlassen. Ihre Familie und Freund*innen konnten die 57-Jährige am Samstag am Flughafen in ihrer Heimatstadt Nürnberg endlich empfangen – nach einer kleinen Verzögerung, da es der Staatsschutz für nötig hielt, noch ein Verhör durchzuführen. Aktivistinnen vom „Bündnis 8. März“, in dem sie seit Jahren aktiv ist, brachten ein Transparent mit: „Frauen weltweit kämpfen um ihre Befreiung“. Kartal bedankte sich bei allen für die Solidarität und Unterstützung in dieser anstrengenden und zermürbenden Zeit als Gefangene des türkischen Staates.

Die Nürnbergerin, die seit 47 Jahren in Deutschland lebt, wurde Anfang Oktober bei der Einreise anlässlich der Beerdigung eines Familienangehörigen in Istanbul verhaftet. Nach zahlreichen Verhören der türkischen Antiterror-Abteilung in Istanbul und Ankara wurde die Ingewahrsamnahme nach fünf Tagen aufgehoben, die Türkei nicht verlassen durfte Kartal aber nicht und musste sich täglich bei der Polizei melden. Weitere Verhöre folgten. Immer wurde sie mit teils Jahre zurückliegenden Einträgen auf einer angeblich ihr zugeordneten Facebook-Seite konfrontiert und nach Kontakten befragt. Ihr Anwalt bekam keine Akteneinsicht; der Fall wurde zur Verschlusssache erklärt. Im Raum standen dubiose Vorwürfe und der in solchen Fällen pauschale „Terrorismus“-Verdacht.

Für die chronisch kranke 57-Jährige, die ständiger ärztlicher Betreuung bedarf, bedeutete dies eine große psychische und physische Belastung. Im Dezember dann wurde die Meldepflicht aufgehoben – möglicherweise auch aufgrund der Medienberichterstattung über das Schicksal der in Nürnberg bekannten und beliebten Kommunalpolitikerin der Linken Liste.

Der psychische Druck erhöhte sich durch die Überwachung, derer Kartal danach ausgesetzt war. Sobald sie die Wohnung verließ, hatte sie ständige Begleiter. Agenten des türkischen Geheimdienstes verfolgten sie auf Schritt und Tritt und versuchten auch mehrmals, sie anzusprechen und nach Kontakten auszufragen. Freund*innen von Senem Kartal teilten mit, dass sie den Psychoterror seitens der Anti-Terror-Kräfte als extrem belastend empfand. Er zwang sie in die Isolation, sie hatte Angst, ihre Wohnung zu verlassen. Die örtliche Presse berichtete, dass es ihr „von Tag zu Tag schlechter gehe“. Über die Stimmung in der Westtürkei, wo Kartal sich aufhielt, berichtete sie, die Menschen würden sich „wie Roboter“ bewegen. Die Angst vor einem falschen Wort bestimmt den Alltag, es herrscht großes Misstrauen, selbst innerhalb von Familien und Freundeskreisen.

Am 15. Januar dann kam ein Anruf aus Ankara, dass die Ausreisesperre aufgehoben wird. Als am nächsten Tag die schriftliche Bestätigung eintraf, konnte sie endlich ihren Rückflug buchen.

Über den Grund für die Aufhebung von Kartals Ausreisesperre lässt sich nur spekulieren. Ob es die bevorstehende Reise Erdogans nach Berlin war, die Medienberichte, Petitionen, Appelle verschiedenster Organisationen oder Anwaltsbriefe – was letztlich den Ausschlag gab, ist kaum zu rekonstruieren. Senem Kartal, ihre Familie und ihre Freund*innen sind vor allem erleichtert, dass dieser Alptraum ein Ende fand.

Die Kommunalpolitikerin versicherte, sich nicht einschüchtern zu lassen und weiterhin ihre durch das deutsche Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit zu nutzen, um die Politik der türkischen Regierung zu kritisieren. „Der türkische Staat ist ein zutiefst rassistischer Unterdrückungsapparat, in dem Menschenrechte nichts wert sind. Solange das so ist, solange in der Türkei jeder eingesperrt wird, der sich für die demokratischen Rechte aller Völker einsetzt, solange kann ich dazu nicht schweigen.“

Zur Freude über das Ende von Kartals Zwangsaufenthalt in der Türkei gesellt sich beim Nürnberger Bündnis für Frieden in Kurdistan die Sorge um das Schicksal der anderen, die noch von den türkischen Behörden festgehalten werden. Wie mehrfach berichtet, sind es vor allem Mitglieder von kurdischen Vereinen in Deutschland, die in die Fänge des Erdogan-Regimes gerieten.

Diese Vereine sind nach deutschem Recht in den Vereinsregistern eingetragen und völlig legal. Allerdings bestimmt seit Jahrzehnten eine deutsche Appeasement-Politik gegenüber dem türkischen Staat das Handeln der Behörden. Wenn die türkische Staatsräson eine oppositionelle Organisation – wie zum Beispiel die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – als „terroristisch“ definiert, sorgt die Bundesregierung für den Eintrag auf diversen „Terrorlisten“ und schickt sich an, kurdische Vereine zu überwachen. Kurd*innen geraten unter Generalverdacht, auch wenn sie sich nur zum Tee treffen oder das Newroz-Fest feiern wollen. Jede Aktivität gerät schnell zur „Staatsgefährdung“. Die praktischen Folgen für Kurd*innen in Deutschland sind: Einschüchterung, Schikanen, Kriminalisierung und das Gefühl, Grundrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit gelten für sie nur eingeschränkt. Nicht nur der deutsche Verfassungsschutz sammelt Daten und gibt diese bei regelmäßigen Konsultationen an türkische Behörden weiter. Auch die rund 6.000 in Deutschland (illegal operierenden, aber geduldeten) Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT haben die kurdischen Vereine im Visier. Dazu werden neuerdings Erdogan-Anhänger zur Denunziation aufgefordert. Mittels der Spionage-App „EGM Mobil“ sollen sie Regime-Kritiker direkt bei den türkischen Polizeibehörden melden.

Der türkische Innenminister Süleyman Soylu kündigte vor knapp einem Jahr die Festnahme von Personen an, die von ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit in Europa in Gebrauch machen und an Erdogan-kritischen Veranstaltungen teilnehmen: „Diese Menschen werden bei der Einreise festgenommen und ab geht’s mit ihnen”. Spätestens seit Herbst 2019 wurde diese Drohung umgesetzt. Die Zahlen der Festnahmen vor allem von Kurd*innen mit ausschließlich deutscher Staatsbürgerschaft stiegen erheblich.

Statt für den Schutz ihrer Bürger*innen zu sorgen und diese Geiselnahmen des türkischen Staates mit politischem Druck oder Sanktionen zu beantworten, schreibt das Auswärtige Amt auf seiner Webseite lapidar: „Es kommt in letzter Zeit vermehrt zu Festnahmen deutscher Staatsangehöriger, die in Deutschland in kurdischen Vereinen aktiv sind oder waren“. Ein Sprecher des Nürnberger Bündnisses schlägt eine andere, ehrlichere Formulierung vor: „Wir warnen alle Kurden, die die Diktatur in der Türkei kritisieren. Wir kennen eure Namen und wissen, wo ihr euch trefft und teilen dies regelmäßig den türkischen Behörden mit. Euer deutscher Pass nützt euch nichts. Wir können euch nicht vor türkischer Verfolgung schützen. Unsere Angst vor dem Zorn unseres türkischen Bündnispartners verhindert eine harsche Intervention.“

Nach der Freude über Senem Kartals Wiederkehr gälte es jetzt, darauf hinzuwirken, dass auch die anderen Freund*innen bald zurückkommen, so ein Sprecher des Bündnis für Frieden in Kurdistan. „Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie mit Nachdruck die türkische Administration auffordert, unverzüglich für die Aufhebung aller Ausreisesperren zu sorgen. Wir erwarten ferner, dass diese Art von Geiselnahmen mit Sanktionen beantwortet wird. Der türkische Staat ist eine Diktatur, die sich zahlloser Menschen- und Völkerrechtsverletzungen schuldig macht und eine aggressive Kriegspolitik betreibt. Wir halten fest an unserer Forderung, dass es keine Zusammenarbeit der deutschen Behörden mit dem AKP-Regime in Ankara geben darf. Wenn die Bundesregierung ernsthaft um Frieden im Mittleren Osten bemüht ist, sollte sie Abstand nehmen von der Unterstützung der AKP-Diktatur, die mit ihren islamistischen Verbündeten einen gefährlichen Weg eingeschlagen hat. Die Zeit ist reif fǘr eine Anerkennung der kurdischen Freiheitsbewegung als zurzeit einziger Kraft, die für Frieden und Demokratisierung im Mittleren Osten steht. Statt weiterhin Erdogans Propaganda von den ‚kurdischen Terroristen‘ nachzubeten, könnte die Bundesregierung jetzt das aus der Zeit gefallene Verbot der PKK als Motor hinter der Freiheitsbewegung aufheben, einen Dialog initiieren und damit eine aktive Rolle bei einem Friedensprozess einnehmen.“