Ausnahmezustand in Stuttgart: Prozessauftakt gegen Kurden

In Stuttgart starten am Dienstag drei 129b-Prozesse gegen insgesamt sieben kurdische Angeklagte.

Wie Azadî, der in Köln ansässige Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland, mitteilt, starten am 16. April gleich drei Prozesse gegen insgesamt sieben kurdische Angeklagte in Stuttgart. In allen Prozessen geht es um den Vorwurf der Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

In der Azadî-Erklärung heißt es:

„Das erste Verfahren gegen 20 kurdische Exilpolitiker*innen in Deutschland ist als größter Prozess in erster Instanz in die Geschichte der deutschen Strafjustiz eingegangen. Dieser Düsseldorfer PKK-Prozess, der von 1989 bis 1994 vor dem OLG Düsseldorf stattfand, war eine politische Feinderklärung gegen die kurdische Befreiungsbewegung, die seitdem als Terrororganisation stigmatisiert und kriminalisiert wird. Dem Düsseldorfer Prozess folgten Dutzende weiterer politisch motivierter Strafverfahren.“

Die aktuellen PKK-Verfahren in Stuttgart gegen sieben Angeklagte werden alle an einem Tag, dem 16. April, zu unterschiedlichen Terminen eröffnet.

Semsettin B.: Terrorismusvorwurf ohne Straftat

Der erste Prozessauftakt gegen Semsettin B. (53) findet um 9.30 Uhr vor dem Oberlandesgericht in der Olgastraße 2 in Stuttgart statt. Azadî erklärt zu diesem Verfahren: „Ihm wird die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§§129a/b StGB) vorgeworfen. Er soll von April bis Juni 2015 vertretungsweise PKK-Verantwortlicher in Heilbronn gewesen sein und seit Juni 2016 bis zur Festnahme das Gebiet allein verantwortlich geleitet haben. Eine individuelle Straftat wird ihm nicht vorgeworfen. Die vom Bundesjustizministerium erteilte Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung gemäß §§129a/b datiert vom September 2011.

Seit seiner Festnahme am 21. Juni 2018 befindet sich Semsettin B. in Untersuchungshaft in der JVA Heilbronn. Nächster Verhandlungstag soll der 18. April, um 9.30 Uhr, sein.

Seine Verteidigerin, Rechtsanwältin Elke Nill, erklärte gegenüber der Stuttgarter Zeitung vom 1. April 2019, dass ihr Mandant den Kriterien eines PKK-Kaders in keiner Weise entspreche: „Wenn die Anklage durchkommt, dann können alle Kurden in Deutschland nicht mehr ruhig schlafen, die sich im öffentlichen Leben durch Spendensammlungen und Organisation von legalen Demonstrationen aus persönlicher Betroffenheit und im Rahmen ihrer politischen Willensäußerung engagieren.“ Sie nennt die Anklage „martialisch“ und vermutet, dass dieses Verfahren ein „Testballon“ sei, um künftig Kurd*innen auch unterhalb der Funktion einer Gebietsleitung anklagen zu können. Gegen die Fortdauer der U-Haft werde der Verteidigung zufolge Verfassungsbeschwerde eingelegt.“

Prozess gegen vier Männer und eine Frau

Der zweite Prozess am 16. April läuft gegen Veysel S. (37) und vier weitere Angeklagte. Er beginnt um 13 Uhr vor dem 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts im Prozessgebäude Stammheim, Sitzungssaal 1 EG, Asperger Str. 47. Zu diesem Verfahren erklärt Azadî: „Er wird der Mitgliedschaft in der PKK beschuldigt, einer von Deutschland als terroristisch eingestuften Vereinigung im Ausland (§§129a/b StGB). Ferner wird ihm tateinheitlich erpresserischer Menschenraub, gefährliche Körperverletzung und versuchte Nötigung vorgeworfen. Mit ihm angeklagt sind Agit K. (26), Cihan A. (38), Özkan T. (33) sowie Frau Evrim A. (35) wegen Unterstützung der PKK und ebenfalls weiterer Straftaten.

Im Laufe des bis zum 19. Dezember 2019 terminierten Verfahrens wird sich zeigen, ob und inwieweit die Vorwürfe zutreffen, zumal ein Kronzeuge der Anklage in diesem Verfahren eine höchst umstrittene Rolle spielt und seine Auftritte vor Gericht mit Spannung erwartet werden dürfen. In Erinnerung an den „Düsseldorfer Prozess“: Hier trat der erste Kronzeuge in der Geschichte der deutschen Justiz auf.

Zur Eröffnung der Hauptverhandlung hat das OLG Stuttgart eine neunseitige Anordnung „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung“ herausgegeben. So wird eine Einlasskontrolle für alle Besucher*innen einschließlich aller Journalist*innen angeordnet, Feststellung der Identität per Ausweis und dessen Abgabe während der Anwesenheitsdauer, Unterziehung einer Durchsuchung, Absuchen mit Metallsuchgeräten, Überprüfung von Taschen und Kleidung. Zur Unterstützung der Bediensteten des Gerichts wird die Polizei Amtshilfe leisten. Um für die Öffentlichkeit eine möglichst bedrohliche Situation herzustellen, dürfte mit einem Großaufgebot an Polizeikräften zu rechnen sein.

Veysel S. befindet sich seit seiner Festnahme im Juni 2018 in Untersuchungshaft in der JVA Stuttgart Stammheim, Frau Evrim A. in der JVA Schwäbisch Gmünd, Özkan T. in der JVA Mannheim, Agit K. in der JVA Ravensburg. Cihan A. ist nicht inhaftiert. Zu den inhaftierten Angeklagten ist festgelegt, dass bei deren Vorführung der vor dem Körper geschlossene Gefangene an den Armen zu führen ist. Der nächste Verhandlungstag ist für Mittwoch, 8. Mai, um 9.00 Uhr, anberaumt.“

Salih K.: Keine individuelle Straftat

Der dritte Prozess findet gegen Salih K. (58) um 14 Uhr vor dem 6. Strafsenat des Oberlandegerichts in der Olgastraße 2, Saal 4, in Stuttgart-Innenstadt statt.

„Er wird der Mitgliedschaft in der PKK verdächtigt (§§129a/b StGB) und soll im Zeitraum von Mitte Juli 2016 bis Juni 2018 als Gebietsleiter für das Gebiet Freiburg tätig gewesen sein. In dieser Funktion habe er Spenden gesammelt sowie Demonstrationen, Veranstaltungen wie Newroz-Feiern, Kundgebungen und Mahnwachen mitorganisiert. Ihm wird keine individuelle Straftat vorgeworfen. Seit seiner Festnahme am 21. Juni 2018 ist Salih K. in U-Haft in der JVA Schwäbisch-Hall.

Die Verhandlung wird am 17. April fortgesetzt. Danach soll der Prozess ab 6. Mai, montags und mittwochs, jeweils um 9.30 Uhr stattfinden, vorerst bis Ende Juni“, so der Rechtshilfefonds Azadî.