Türkei: Dutzende syrische Kriegsgefangene nach § 302 verurteilt

Der Großteil von mindestens 103 syrischen Staatsangehörigen, die im Verlauf der Invasion in Rojava von Besatzungstruppen festgenommen und in die Türkei verschleppt wurden, ist bereits nach Artikel 302 zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt worden.

Ein Großteil der mehr als hundert syrischen Staatsangehörigen, die im Verlauf der Invasion in Rojava im Herbst 2019 in die Türkei verschleppt und angeklagt wurden, ist nach türkischem Recht zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt worden. Das teilt der Rechtsanwalt Mustafa Vefa, Ko-Vorsitzender der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in Riha (tr. Urfa), mit. Nach Angaben von Vefa sind derzeit mindestens 103 syrische Frauen und Männer in verschiedenen Gefängnissen in der Grenzprovinz inhaftiert. In allen Fällen stützen sich die Anklagen auf Terrorvorwürfe und Artikel 302, der das Zerstören der Einheit und Integrität des Staates regelt. Als vermeintliche Beweise gegen die Kriegsgefangenen werden einzig sogenannte Festnahmeprotokolle herangezogen, die von der dschihadistischen Söldnertruppe „Syrische Nationale Armee“ (SNA) erstellt wurden. Als Tatort der angeblichen Verbrechen taucht in den Anklageschriften „Urfa“ auf.

Artikel 302 ist der schwerstwiegende Artikel des türkischen Strafgesetzbuches. Im Text heißt es: „Wer die territoriale Integrität des Staates vollständig bzw. teilweise unter die Souveränität eines fremden Staats stellt, die Einheit des Staates zerstört, einen Teil des Staatsgebietes abtrennt sowie Taten begeht, die die Unabhängigkeit des Staates schwächen, wird zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.” Während schon allein die Verhaftung und Überführung dieser Menschen auf türkisches Staatsgebiet ein Kriegsverbrechen darstellt, werden sie in der Türkei für behauptete Verbrechen verurteilt, die sie in Syrien begangen haben sollen. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) stellt diese Methode eine „Verletzung der Verpflichtungen der Türkei als Besatzungsmacht im Nordosten Syriens gemäß der Vierten Genfer Konvention“ dar. Wie viele syrische Staatsangehörige insgesamt im Zuge der Invasion in die Türkei verschleppt worden sind, ist unklar. Die Behörden hüllen sich in Schweigen.

Nach Angaben von Mustafa Vefa laufen die Verhaftungen von syrischen Kriegsgefangenen stets nach gleichem Muster ab. „Die Menschen stammen in der Regel aus Girê Spî (Tall Abyad), Serêkaniyê (Ras al-Ain), aber auch aus anderen Gebieten Nordostsyriens, wie etwa Til Temir. Die Festnahmen durch SNA-Milizionäre erfolgen meist außerhalb der Kampfzone, in einigen Fällen direkt vor der Haustür der Betroffenen. Unmittelbar danach wenden sich die SNA-Leute mit Lösegelderpressungen an die Angehörigen der Gefangenen. Die Mindestsumme beträgt standardmäßig 3.000 US-Dollar. Kann eine Familie das Geld nicht aufbringen, werden die Verschleppten unter Folter an die Türkei übergeben. Wer bezahlt, kommt frei.” Vefa beklagt, dass diese Menschen in türkischer Haft schweren Formen der Folter und Misshandlung ausgesetzt seien. Körperliche und psychische Folter werde zur Bestrafung, Einschüchterung und Erniedrigung eingesetzt, diene auch als Verhörtaktik, um vorgefertigte Geständnisse unterschreiben zu lassen. „In solchen Fällen unterzeichnen Betroffene das ‚Geständnis’, Mitglied einer ‚Terrororganisation’ zu sein, ohne zu verstehen, was da geschrieben steht. Dolmetscher, so wie es das Gesetz verlangt, werden bei den Verhören nicht hinzugezogen”, sagt Vefa.

Die wenigsten der in Riha inhaftierten Syrer:innen hätten die Chance, ihr Recht auf Verteidigung wahrzunehmen, führt Vefa weiter aus. „Die Situation der Kriegsgefangenen ist allgemein sehr schlecht. Die meisten sind noch nicht mal in der Lage, Kontakt zu ihren Familien herzustellen. Sie werden von der Außenwelt vollkommen isoliert. Ihre Angehörigen wissen oft gar nicht, ob sie überhaupt noch am Leben sind. Da es sich um nicht-türkische Staatsangehörige handelt, steht ihnen auch kein Besuchsrecht zu. Das erschwert ihre ohnehin belastende Lage extrem. Ihnen wird systematisch die Möglichkeit genommen, Menschenrechtsverletzungen nach außen zu tragen”, so Vefa. Es bestehe dringender Handlungsbedarf, einen fairen Umgang mit den Kriegsgefangenen zu erwirken. „Die Gerichte müssten diese Menschen eigentlich umgehend freilassen, stattdessen werden sie zu lebenslanger Haft verurteilt. Wir verlangen, dass das Justizministerium umgehend aktiv wird. Es existiert kein einziger greifbarer Beweis für die beschuldigten Straftaten. Hier wird das Völkerrecht mit Füßen getreten.” Vefa kündigte zudem an, dass der IHD-Riha in absehbarer Zeit einen detaillierten Bericht zur Lage von Kriegsgefangenen in türkischer Haft veröffentlichen wird.