Karayilan: Wir werden den Kolonialismus besiegen

Als Oberkommandierender der Volksverteidigungskräfte erklärte Murat Karayilan, dass die Guerilla eine großangelegte Befreiungsoffensive begonnen hat. Der Faschismus werde nicht mehr mit klassischen Methoden bekämpft, sagte Karayilan.

An der Abschlusszeremonie einer Ausbildungseinheit an der Şehîd-Mahir-Akademie in den Medya-Verteidigungsgebieten, die im Zuständigkeitsbereich der Kommandantur der Apollon-Akademie liegt, haben neben zahlreichen Kämpfer*innen auch der ausbildungsleitende Kommandant Xeyrî Garzan, die YJA-Star-Kommandantin Gülistan Gulhat und Murat Karayilan, Oberkommandierender der Volksverteidigungskräfte HPG, teilgenommen.

Bei einem anschließenden Gespräch mit der Guerilla bewertete Karayilan die aktuelle Lage der Region und wies auf die Besatzungsabsichten des türkischen Staates hin. Mit den Angriffen gegen das auf südkurdischem Territorium gelegene Gebiet Bradost ziele die Türkei auf ganz Südkurdistan ab, sagte Karayilan. Aus diesem Grund müsse das kurdische Volk eine Einheit bilden, um seine Errungenschaften zu verteidigen.

Wir veröffentlichen einige Auszüge der Rede Karayilans:

Der Krieg hat eine wichtige Phase erreicht

„Der kurdische Befreiungskampf befindet sich heute in einem historischen Prozess. Auf der Grundlage des demokratischen, ökologischen und auf Frauenbefreiung beruhenden Paradigma des Vorsitzenden Apo hat sich unser Kampf entwickelt und ist gewachsen. Unser Widerstand hat sich zum Kampf für Freiheit und Demokratie aller Völker der Region entfaltet. Diese Tatsache erschreckt den türkischen Kolonialismus und lässt ihn in Panik geraten. Aus diesem Grund hat Tayyip Erdoğan Anfang 2015 den Dolmabahçe-Plan [Zehn-Punkte-Plan für die Lösung der kurdischen Frage, Anm. der Redaktion] umgeworfen und der kurdischen Freiheitsbewegung sowie den Völkern der Türkei den Krieg erklärt. Dieser Krieg dauert nun seit bereits drei Jahren an und hat heute eine sehr wichtige Phase erreicht.“

Sie fürchten sich vor der Demokratisierung

„Der türkische Staat hat in diesem dreijährigen Krieg keine Ergebnisse erzielt. Die Repression, Folter und Isolation auf Imrali, die Unterdrückung des kurdischen Volkes, der politische Vernichtungsfeldzug gegen die demokratischen Kräfte, die Verhaftungen von Bürgermeister*innen und Parlamentarier*innen, die Geiselhaft der durch staatlich eingesetzte Treuhänder abgesetzte, vom Volk gewählte Vertreter*innen hat der türkischen Regierung keinen Erfolg gebracht. Gleichzeitig sind in den Krieg gegen die kurdische Freiheitsguerilla Millionen, wenn nicht Milliarden geflossen, um aus einer Bodenoffensive einen Luftkrieg zu machen. Der Kolonialismus Erdoğans führt einen Luftkrieg gegen uns. Zweifelsohne ist dies ein sehr kostspieliger Krieg für die Türkei, der mutwillig in Kauf genommen wurde. Weshalb tat sie das? Weil sie gesehen hat, dass sich die Türkei demokratisieren wird, sollte die kurdische Frage im Rahmen eines friedlichen Dialogprozesses gelöst werden. Sie fürchten sich davor. Denn eine demokratische Türkei wird all ihre dreckigen Machenschaften aufdecken. Aus diesem Grund zauberten sie sich einen Plan aus dem Hut, der lautete: ‚Die Zukunft der Türkei ist in Gefahr. Es geht um das Überleben des Landes und dieser Krieg ist ein Krieg für das Überleben der Türkei‘. So propagierten sie ihr Vorgehen und setzten auf eine umfassende, psychologische Kriegsführung. Die Wahrheit ist jedoch, dass es nicht um das Überleben des türkischen Volkes, sondern um das Überleben Erdoğans geht.“

Die PKK beabsichtigt eine Revolution, nicht die Spaltung der Türkei

„Erdoğan und Bahçeli haben daraufhin am 24. Juni vorgezogene Wahlen anberaumt. Was steckt dahinter? Dahinter steckt Angst. Sie fürchten den Kampf der Völker, den Kampf der Menschen in Kurdistan, den Kampf der Völker der Türkei und Syriens.

Es gibt kein ähnliches Beispiel irgendwo auf der Welt. Sie sagen gleichzeitig: „Wir befinden uns im Krieg und die Türkei befindet sich in einem Befreiungskrieg". Erdogan versucht, die Macht zu ergreifen, indem er ein Imperium der Angst errichtet.

Jeder sollte wissen, dass die PKK nicht beabsichtigt, die Türkei zu spalten. Die PKK strebt gemeinsam mit der Freiheitsguerilla Kurdistans eine Revolution und die Demokratisierung des Landes an. Doch Erdoğan, Bahçeli und der Ergenekon-Bund haben diese Realität umgeworfen und ihren Pakt auf dieser Grundlage geschlossen. Es handelt sich hier um ein Bündnis, das sich auf das Erbe der Ittihadisten [Mitglieder des Komitees für Einheit und Fortschritt (İttiḥâd ve Teraḳḳî Cemiyeti), politische Organisation im Osmanischen Reich, Anm. der Redaktion] stützt. So wie im Osmanischen Reich die Ittihadisten versuchten, mit der Politik des Völkermords ihrem Untergang Einheit zu gebieten, bemüht sich der AKP-MHP-Ergenekon-Pakt heute auf gleiche Weise darum, nicht zu verlieren. Sie führen diesen Krieg, um ihre eigene Macht zu gewährleisten. Dies tun sie, indem sie den Chauvinismus im Land ankurbeln. Mit ihrer Behauptung, das Überleben der Türkei stehe auf dem Spiel, versetzen sie das Volk in Angst und Schrecken. In Wirklichkeit ist das eine haltlose Lüge. Sowohl die Arbeiter*innenpartei Kurdistans und ihre Freund*innen und auch die sozialistische und demokratische Bewegung der Türkei setzen sich für die Geschwisterlichkeit der Völker und ein demokratisches und freiheitliches Land ein, um eine vereinte Türkei aufzubauen.“

Widerstand in allen Teilen Kurdistans

„Doch diejenigen, die sich vor der Demokratie fürchten, haben unserem Volk den Krieg erklärt. In Bakur [Nordkurdistan] haben sie keine Ergebnisse erzielt. Efrîn haben sie angegriffen und die Revolution in Rojava ist dabei in die Schusslinie geraten. Jetzt zielen sie auf Başûr [Südkurdistan] ab und greifen die Region um Lêlîkan und Xakurkê an. Mit anderen Worten: Der AKP-MHP-Ergenekon-Faschismus beabsichtigt seine auf Völkermord basierende Politik in Kurdistan durchzuführen, um die Gebiete jenseits der Misak-ı-Millî-Grenzen [Nationalpakt: Politisches Manifest der türkischen Unabhängigkeitsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg, Anm. der Redaktion] zu besetzen. Nun scheint es, dass unser Volk in drei Teilen Kurdistans gegen die Invasionsversuche und die Aggression der türkischen Regierung Widerstand leisten muss.“

Großangelegte Befreiungsoffensive der Guerilla

„Die Guerilla hat in diesem Jahr in Bakur eine Reihe von Aktionen unternommen. In Botan wurde im Gedenken an die gefallene Kämpferin Delal Amed eine revolutionäre Offensive für die Gefallenen von Besta ins Leben gerufen. In der Region Serhat startete ebenfalls eine revolutionäre Befreiungsoffensive. Auch im Zagros-Gebirge, in Amed, Garzan, Dersim und in der Schwarzmeer-Region wurde von der Guerilla eine solche Phase eingeleitet. Wir glauben daran, dass in diesem Jahr der Krieg zwischen uns und dem türkischen Kolonialismus eine andere Stufe erreichen wird und wir Erfolg haben werden. Erdoğan hat diese Realität vorausgesehen. Auf der einen Seite schwächelt die Wirtschaft, daher steigen die Preise täglich. Und auf der anderen Seite ist er nicht in der Lage, das Land ohne Notstandsdekrete zu regieren.“

Vorgezogene Wahlen zeugen von der Angst des Regimes

„Jetzt haben Erdoğan und Bahçeli entschieden, am 24. Juni vorgezogene Wahlen durchzuführen. Was sind die Beweggründe dafür? Ihre Angst. Sie fürchten den Kampf der Völker von Kurdistan, der Türkei und Syrien. Im Grunde ist es keine Entscheidung für vorgezogene Wahlen, sondern ein Überfall. Auf der einen Seite behauptet die Türkei, sie führe einen Überlebenskrieg und auf der anderen Seite regiert sie das Land per Notstandsdekret im Ausnahmezustand. Sie verbreiten Angst, machen Kritiker und Oppositionelle mundtot und wollen unter diesen Umständen Wahlen durchführen. Das ist eine niederträchtige Herangehensweise. Indem er ein Imperium der Angst errichtet, versucht Erdoğan an der Macht zu bleiben. Der Widerstand der Völker Kurdistans und der Türkei wird die arglistige Täuschung nicht tolerieren.“

100-jährige Politik wird neu aufgerollt

„Vor hundert Jahren griff der kranke Mann am Bosporus unermüdlich an, um nicht unterzugehen. Den Massakern des Osmanischen Reiches fielen 1,5 Millionen Armenier, unzählige Kurden, Araber und Griechen zum Opfer. Was damals der Turanismus, Pan-Islamismus und Osmanismus war, spiegelt sich heute in der AKP, MHP und dem Ergenekon-Bund wider.

Im Jahr 2014 wurde dieses Angriffskonzept zum Zeitpunkt des Kobanê-Krieges erstmals im Rahmen des sogenannten ‚Zerschlagungsplan‘ erprobt. Dann bildeten sie ihre eigenen internen Allianzen. Die Mitglieder der Ergenekon waren im Gefängnis, also mussten sie erst einmal befreit werden, damit sie in diesen neuen Pakt integriert werden konnten. Fettullah Gülen blieb dabei auf der Strecke, deshalb wollte er die Macht an sich reißen. Aus diesem Grund entfachte sich der Krieg gegen Gülen, der im Zuge dessen mundtot gemacht wurde.“

Die Angst der rassenfanatischen Turanisten

„2011 begann im Mittleren Osten ein Krieg, genauer gesagt der Dritte Weltkrieg. Als von einer Neuordnung der Region die Rede war, fürchteten sich die turanistischen Türken. ‚Denn wenn die Region eine neue Struktur erhält, könnte Kurdistan gegründet werden‘, dachten sie sich und haben dementsprechend reagiert. ‚Weder innerhalb der Türkei, noch außerhalb darf Kurdistan existieren‘, lautete die Devise. Sollte Südkurdistan unabhängig werden oder gar eine Föderation gründen und dann auch noch Rojava dazukommen, können die Kurden im Norden nicht gestoppt werden, scheinen sie sich gedacht zu haben. Deshalb ist der Krieg nicht nur den Kurden innerhalb der Grenzen der Türkei, sondern auch außerhalb erklärt worden.“

Erdoğan ist ein Diktator

„Erdoğan ist ein Diktator, dem es wie allen anderen Diktatoren lediglich um seine eigene Macht geht. Als ihm unser Vorsitzender vor der Phase des Friedensprozesses 2013 einen Brief mit der Bitte um Verhandlungen schrieb, nahm Erdoğan diesen Brief an und tat so, als wolle er eine Lösung für die kurdische Frage entwickeln. Sehr bald stellte sich heraus, dass Erdoğan eine Lösung nicht beabsichtigt. Er realisierte eben, dass die Türkei einen Demokratisierungsprozess durchleben wird, wenn die kurdische Frage gelöst wird. Eine demokratische Türkei passt ihm nicht in den Kram. Aus diesem Grund erklärte er am 18. März 2015, dass der Dolmabahçe-Plan Geschichte ist.“

Der Krieg entscheidet sich dieses Jahr

„Dieses Jahr wird ein entscheidendes Jahr für den Krieg sein. Einige Dinge müssen jetzt klargestellt werden. Dieser türkische Kolonialismus sagt ganz eindeutig: ‚Wir sind gegen die PKK‘. Fakt ist, dass der türkische Staat gegen die Errungenschaften und die Existenz des kurdischen Volkes ist. Erst zielen sie auf uns ab, um im Anschluss all die anderen ins Visier zu nehmen. Weil die Vereinigten Staaten und die Europäische Union die PKK auf ihren Terrorlisten führen, erhofft sich die Türkei, dass alle kurdischen Organisationen gleichermaßen gelistet werden. Aus diesem Grund behauptet sie, dass Rojava, die YPG, YPJ und QSD, genauso Başûr und der Şengal gleich PKK seien. Wir versuchen den Kräften Südkurdistans klarzumachen, dass dieses turanistische Konzept nicht nur auf uns, sondern auf die Existenz und die Errungenschaften des gesamten kurdischen Volkes abzielt.

Um dieser Politik entgegenzuwirken ist es wichtig, dass wir Kurd*innen eine Einheit bilden. Unsere Politik mag unterschiedlich sein, wir mögen andere Ansichten haben als andere Organisationen, aber unsere Interessen sind dieselben. Wir sitzen in einem Boot. Wenn wir diesen historischen Prozess in der Region nicht richtig nutzen können, werden sich diese Staaten - skrupellos wie sie sind - vereinen, um uns auszulöschen.“