Hadrien Desuin: Ein türkischer Sieg in Efrîn ist unmöglich

Der französische Experte für internationale Krisen und Verteidigung Hadrien Desuin hält einen Sieg der Türkei in Efrîn für unmöglich. Die Lösung für Syrien sei nicht politisch, sondern militärisch, so Desuin.

Der Militärexperte Hadrien Desuin äußert sich im Interview mit ANF zu den türkischen Angriffen auf Efrîn und geht dabei auf das Ziel dieser Angriffe, die beteiligten Gruppen, die Haltung Russlands, der USA und der NATO und die komplexe Situation in Syrien ein. Er erklärt, dass die türkisch-russische Allianz sehr konjunkturabhängig sei und jederzeit zerbrechen könne.

„Der IS ist nie die Priorität der Türkei gewesen“

Warum hat der türkische Staat Efrîn angegriffen, obwohl der IS den Krieg wegen der Kurd*innen verloren hat und Raqqa befreit worden ist?

Der IS war niemals das Hauptziel der Türkei. Im Gegenteil, die Türkei war objektiv mit dem „Islamischen Staat“ alliiert, wie bereits bei der Belagerung von Kobanê offensichtlich war. Die Niederlage des IS [in Kobanê] hat eine Lücke gerissen und die Türkei mit der Angst, dass nun die syrischen Kurden ihre drei Kantone vereinen könnten, zur Eile gezwungen. Später haben die kurdischen Kräfte vor der Nase der Türkei Raqqa eingenommen und sind den Euphrat entlang bis zur irakischen Grenze vorgedrungen. Trotz der Kämpfe bei Minbic und Bab entstand aufgrund des Schutzes durch die USA oder Russland ein stabiles Gleichgewicht zwischen der Türkei und den Kurden. Die Türkei hat mit ihrer Operation „Olivenzweig“ aus innenpolitischen Interessen die Initiative nun wieder in die Hand genommen.

Wer sind die bewaffneten Gruppen, die unter türkischem Kommando an der Besatzung teilnehmen?

Vom türkischen Militär wurde diese Rolle sehr unterschiedlichen Gruppen zugewiesen. Das Militär zieht es vor, hinter dem Vorhang zu agieren. Es ist nicht möglich, eine vollständige Inventur dieser Gruppen durchzuführen, da diese sehr verschieden sind. Abgesehen von den turkmenischen Minderheiten gibt es unter ihnen ehemalige Kämpfer von al-Nusra, Tahrir El Şam und Jayş al İslam, die in Westeuropa als „Aufständische“ oder „Freie Syrische Armee“ bezeichnet werden und bei denen es sich in Wirklichkeit um gefährliche und extrem dschihadistische arabische Gruppen handelt, die Teil verschiedener Takfiri-Koalitionen sind. [Takfiri sind sektiererische Gruppen, die andere Muslime als Apostaten bezeichnen und als solche verfolgen]

„Die Allianz mit Russland ist stark konjunkturabhängig und kann jederzeit zerbrechen“

Welche Rolle kommt Russland bei der Invasion zu?

Russland hat bei der türkischen Invasion keine Rolle gespielt. Nur weil sie dachten, so auch bei den Gesprächen von Sotschi und Astana besser manövrieren zu können, und damit die Allianz mit der Türkei nicht zerbricht, haben sie sich entschieden, sich aus Efrîn zurückzuziehen und den türkischen Flugzeugen den Luftraum zu öffnen. Demgegenüber haben sie die Möglichkeit erhalten, im Süden von Idlib und in Guta ihre Operation wieder fortzusetzen.

Kann die russisch-türkische Allianz bestehen?

Diese Allianz ist sehr zerbrechlich, denn die Türkei ist gleichzeitig mit den USA alliiert und die USA sind mit den QSD (Demokratische Kräfte Syriens) alliiert. Die türkisch-russische Allianz ist eine vorübergehende, stark konjunkturabhängige Allianz und kann jeden Moment zerbrechen. Nun, da die Türkei einige Kilometer entlang ihrer Grenze zum Kanton Efrîn stabilisiert hat und mit der syrischen Armee konfrontiert ist, ist die türkisch-russische Allianz in eine heiklere Phase eingetreten. Es ist einfach nur logisch, wenn die türkische Operation an diesem Punkt stoppen muss. Russland wird nicht zulassen, dass es zu einem hochintensiven Konflikt zwischen der Türkei und Syrien kommt. Vor allem nach dem Scheitern der Sotschi-Gespräche wird Russland das nicht zulassen.

„Die Kurden haben viele Karten in ihren Händen“

Wie ist die Haltung der USA gegenüber den Angriffen der Türkei?

Wie die Russen haben auch die USA eine sehr weiche Haltung gegenüber der Türkei. Sowohl die Russen als auch die Amerikaner haben Angst davor, die Türkei an die jeweils andere Seite zu verlieren. Sie befinden sich in einem sehr subtilen gegenseitigen Spiel. Aber die Kurden sind auch Teil dieses Spiels und sie haben einschließlich der von ihnen kontrollierten Gebiete sehr viele Karten auf der Hand. Die Kurden können auf meisterhafte Weise über Damaskus die Haltung Russlands gegenüber der Türkei verschärfen. Sotschi hatte für die Türkei keinen Nutzen und die Türkei hat auch keine ernstzunehmende Kontrolle über die sogenannte syrische Opposition. Wenn wir es uns im Allgemeinen anschauen, dann möchte die USA nicht in eine Auseinandersetzung mit der Türkei geraten.

„Syrien interessiert die NATO nicht, der einzig wahre Feind ist Russland“

Bei den Angriffen der Türkei sind viele Zivilist*innen ums Leben gekommen, unter ihnen auch Kinder. Wir haben schreckliche Bilder sehen müssen. Wie lässt sich erklären, wenn Zivilist*innen von einem durch einen NATO-Staat aufgebauten Heer aus Gruppen, die vom Westen als „Dschihadisten“ bezeichnet werden, getötet werden und dafür auch noch NATO-Waffen benutzt werden?

In vieler Hinsicht entspricht die Türkei nicht den von der NATO immer wieder angeführten Werten wie Demokratie und Menschenrechte. Aber die NATO reagiert trotzdem nicht und lässt dies zu. Die NATO oder anders gesagt, die USA in Europa, zeigen in diesem Fall eine noch feigere Haltung als die EU, und das ist auf jeden Fall eine unglaubliche Leistung. Die Türkei verfügt gegenüber dem einzig wahren Feind der NATO, Russland, über eine geographisch wichtige strategische Position. Syrien interessiert die NATO nicht. Der einzige Krieg, der sie interessiert, ist der neue kalte Krieg mit Russland.

“Ein Pyrrhus-Sieg für die Türkei“

Die Türkei meinte, innerhalb von drei Stunden in Efrîn einmarschieren zu können, tritt jedoch immer noch auf der Stelle. Wenn man anerkennt, dass es sich dabei um das zweitgrößte Heer der NATO handelt, was sagt uns das dann?

Man kann wirklich von einem Pyrrhus-Sieg sprechen. Oder anders gesagt, die Kosten für die Türkei sind extrem hoch und der Angriff ist immer noch unvollständig. Die türkischen Streitkräfte sind nicht bereit, die menschlichen Verluste einer Schlacht um Efrîn zu akzeptieren. Und auch die Öffentlichkeit kann ein solches Abenteuer nicht nachvollziehen.

„Ein Sieg für die Türkei ist unmöglich, sie kann in eine Verteidigungsposition gedrängt werden“

Demgegenüber verteidigen kurdische Truppen ihr Territorium und sind bereit dafür zu sterben. In dieser Situation wird das türkische Militär wahrscheinlich das Vorrücken des Heeres stoppen und trotz der kriegerischen Erklärungen der Führung versuchen, die Front zu stabilisieren. Jetzt, wo die Kurden eine Grundlage für die Verteidigung Efrîns mit Damaskus gefunden haben, ist der Sieg der Türkei zweifelhaft, er ist eigentlich unmöglich. Sie kann in eine Verteidigungsposition treten, um ihre Stellungen zu festigen.

„Hegemonialkrieg geht weiter“

Von Beginn des Syrienkrieges an haben wir erlebt, wie sich das Kräftegleichgewicht zwischen den Akteuren und Bündnissen von heute auf morgen ändern kann. Mit der Niederlage des IS hat der Krieg eine neue Dimension erreicht. Wie muss man einen Kampf mit so vielen Akteuren definieren? Ist das ein Weltkrieg? Wie viele Kriege finden innerhalb dieses Krieges statt? Was kommt noch?

Es ist wahr, dass die Lage durch das Ende des IS nicht einfacher geworden ist. Denn der syrische Bürgerkrieg mit seinen regionalen Sponsoren dahinter geht weiter. Obwohl Amerikaner und Russen indirekt kämpfen, glaube ich nicht, dass wir über einen globalen Konflikt sprechen können. Das Schlachtfeld bleibt regional und ist in der Regel auf Syrien beschränkt. Andererseits sind die Nachbarn Syriens, die Türkei, der Iran, Saudi-Arabien und Israel Schlüsselakteure und stecken nicht ihre gesamten Möglichkeiten in diesen Krieg. Wir befinden uns im Moment noch in einem Hegemonialkrieg.

„Die Lösung in Syrien wird eine militärische sein und der Gewinner wird den Frieden diktieren“

Entgegen der seit sieben Jahren vorherrschenden Annahme ist die Lösung des Syrienkonflikts nicht politisch oder diplomatisch, sondern militärisch. Der Gewinner wird den Frieden diktieren. Wenn der Staus Quo fortgesetzt wird, wird es eine Teilung und eine dauerhafte Instabilität im Mittleren Osten geben. Das ist nicht zu wünschen. Die Syrer, einschließlich der Kurden, müssen ihre militärische Souveränität wiederfinden und schrittweise von allen regionalen Interventionen Abstand nehmen, egal von wem sie ausgehen.