Für das Überleben bestraft

Havva Cuştan, Korrespondentin der Nachrichtenagentur ETHA und Überlebende des IS-Anschlags von Pirsûs (Suruç), ist nach neun Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen worden. „Regierung und Justiz lassen uns für das Überleben bezahlen“, sagt sie.

Nach neun Monaten Untersuchungshaft ist die ETHA-Korrespondentin Havva Cuştan am 17. Juli aus dem Istanbuler Frauengefängnis Bakırköy entlassen worden. Gegenüber ANF berichtet sie von ihren Erfahrungen im Gefängnis. Durch das Zusammenleben in einer Zelle mit anderen politischen Gefangenen habe sie „eine ganz andere Havva“ entdeckt, erzählt sie. Sie habe das Gefängnis stärker und gereifter verlassen.

Havva Cuştan ist nicht nur Journalistin, sondern auch eine Überlebende des IS-Anschlags in Pirsûs vom 20. Juli 2015, bei dem 33 ihrer Weggefährten von einem Selbstmordattentäter in den Tod gerissen wurden. Beides seien Gründe, warum sie ins Visier des Staates geraten sei, meint die 24-Jährige.

Verhaftet wurde sie wegen ihrer Arbeit als Journalistin und der Teilnahme an Beerdigungen. Über ihre Freilassung kann sie sich nicht richtig freuen, weil sie ihre Freundinnen im Gefängnis zurücklassen musste. In einer Zeit, in der Zensur und Repression gegen Journalisten Hochkonjunktur haben, sei ihre Verhaftung keine Überraschung gewesen, erklärt sie. Bei ihrer Festnahme wurde sie misshandelt. Als die Polizei mit dem Verweis auf Fluchtgefahr plötzlich in ihre Wohnung einbrach, kam sie ironischerweise gerade zurück von einer Reportage im Justizgebäude.

Schläge und Vergewaltigungsdrohungen

Ihre Wohnung, in der sie gemeinsam mit einer Kollegin lebte, wurde von maskierten und schwer bewaffneten Sondereinheiten überfallen, erzählt Havva von ihrer Festnahme: „Sie brachen die Tür auf und fragten: ‚Wer von euch ist Havva?‘ Dann zerrten sie mich an den Haaren in ein Zimmer. Einer legte mir Handschellen auf dem Rücken an und setzte sich auf mich. Die anderen durchsuchten die Wohnung und schlugen mit ihren Gewehrschäften auf meinen Rücken, wenn sie an mir vorbeikamen. Sie drohten mit Vergewaltigung und beschimpften mich. Meinen Presseausweis verbrannten sie im Badezimmer. Diese Folter dauerte zwei Stunden an. Dann brachten sie mich weg, ohne dass ich mich vorher anziehen konnte.

„Im Gefängnis habe ich eine neue Havva entdeckt“

Nach sieben Tagen in Polizeigewahrsam wurde Havva verhaftet. Das Gefängnis war eine neue Erfahrung für sie, aus der sie gestärkt hervorgegangen ist. Vor allem durch das kollektive Leben in der Zelle der politischen Gefangenen habe sie viel gelernt, sagt sie. „Die Solidarität hat dazu geführt, dass ich eine ganz neue Havva entdeckt habe. Zwischen den grauen Wänden fand ein grünes Leben statt. Die Zellenwände waren grau und der Hofgang fand zwischen Stacheldraht statt, aber das Leben war durch die Solidarität untereinander und die Produktivität jeder einzelnen Frau trotzdem schön.

In der Zelle haben wir alles miteinander geteilt, nicht nur materielle Dinge, sondern vor allem in ideeller Hinsicht gab es große Solidarität. War eine von uns traurig, fühlten alle anderen mit ihr und suchten nach einer Lösung. War eine glücklich, freuten sich auch die anderen. Wurde eine entlassen, freuten sich alle wie über die eigene Freilassung. Ich habe gelernt, was es bedeutet, das Leben mit anderen zu teilen. Jetzt ist eine Havva aus dem Gefängnis gekommen, die zu viel mehr Empathie fähig ist und die stärker und reifer ist als zuvor.“

„Wir wurden ermordet und sollten zum Schweigen gebracht werden“

Havva Cuştan hat den IS-Anschlag von Pirsûs überlebt. Ihr wird von der Justiz zum Vorwurf gemacht, dass sie bei Beerdigungen von IS-Opfern und einer Gedenkveranstaltung für Hasan Ocak war, der in Polizeigewahrsam verschwunden ist. „Daran sieht man, wie die Regierung und die Justiz denken“, sagt sie. „Nicht das Verschwindenlassen und Töten von Menschen gilt als Straftat, sondern die Teilnahme an Beerdigungen und Gedenkveranstaltungen.“

Wegen des Massakers von Pirsûs sitzt nur eine Person in Untersuchungshaft. Gegen fast alle Überlebenden des Anschlags wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, sie wurden verhaftet oder in den Medien zur Schau gestellt. „Die Regierung und die Justiz lassen uns dafür zahlen, dass wir überlebt haben“, sagt Havva. Von ihrem Kampf um Gerechtigkeit wird sie sich trotzdem nicht abhalten lassen.