Del Ponte: Kein Erfolg, sondern Verrat und Kriegsverbrechen

Im ANF-Gespräch erklärt Carla Del Ponte, ehemalige Vertreterin der UN-Untersuchungskommission zu Menschenrechtsverletzungen in Syrien: „Von Erfolg kann nicht die Rede sein. In Syrien gibt es nur Verrat an den Kurden und Kriegsverbrechen.“

Carla Del Ponte war von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und für den Völkermord in Ruanda. Von 2011 bis 2017 war sie Mitglied der UN-Untersuchungskommission zur Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen in Syrien. Von ihrer Position als UN-Sonderermittlerin trat sie zurück, weil sie diese für machtlos hält. Sie warf den Vereinten Nationen fehlende politische Unterstützung und Stagnation in ihrer Arbeit vor. Wir haben mit Carla Del Ponte über die Entwicklungen in Syrien gesprochen.

Frau Del Ponte, Sie sind 2017 von ihrem Posten in der Unabhängigen Syrien-Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zurückgetreten. Was hat Sie zu dieser Entscheidung gebracht?

Es gibt zwei Gründe für meinen Rücktritt nach fünf Jahren Kommissionsarbeit. Der erste Grund ist, dass der UN-Sicherheitsrat trotz unserer wichtigen Ermittlungen und Berichte keinen internationalen Gerichtshof zur Untersuchung der Kriegsverbrechen eingerichtet hat. Wir wollten Gerechtigkeit für die Opfer in Syrien, aber das wurde nicht erlaubt. Somit hatten wir keinen Erfolg. Der zweite Grund ist, dass es für die Existenz der Unabhängigen Syrienuntersuchungskommission sehr wichtig war, alle begangenen Kriegsverbrechen ans Licht zu bringen und aufzuklären. Aber später hat man sich nicht wie geplant mit diesen Verbrechen befasst oder es wurden keine Ermittlungen gegen die Täter eingeleitet. Ich bin zurückgetreten, weil die Kommission ihren Zweck nicht erfüllen wird und um dagegen zu protestieren, dass der UN-Sicherheitsrat keine Gerechtigkeit für die Opfer der Verbrechen sucht.

UNO muss sich erneuern

Wie bewerten Sie die Rolle der UN im syrischen Bürgerkrieg?

Die Rolle der UN im Krieg in Syrien bestand in humanitärer Hilfe. Die UN haben nichts Entscheidendes für Frieden in Syrien unternommen. Zu Beginn wollten die UN die Genfer-Treffen durchführen, waren aber nicht erfolgreich. Während einerseits die syrische Regierung nicht an diesen Treffen teilnehmen wollte, akzeptierten auch die Gruppen, die als Opposition bezeichnet werden, viele Dinge nicht. Und noch gravierender war, dass nach einer Weile der IS und Anhänger des Extremismus begannen, in Syrien in den Vordergrund zu treten. Zunächst schenkte man dieser Lage nicht viel Aufmerksamkeit. Der UN-Sicherheitsrat hat keine großen Entscheidungen für einen Frieden in Syrien getroffen. Das hat mich aber auch nicht erstaunt, denn wenn sich die UN nicht erneuern, werden sie immer schwächer werden. Wenn wir Frieden auf der Welt gewinnen wollen, dann muss sich eine wichtige Institution wie die UN selbst erneuern. Es ist sehr bedauerlich, dass die UN in der kommenden Phase nicht mehr unternehmen werden können, als humanitäre Hilfe zu leisten. Ich sage es nochmal, die UN müssen sich auf jeden Fall erneuern. Aber das ist nicht leicht, weil es manche Staaten nicht zulassen.

Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit den UN vorgetragen

Sie haben immer wieder von Kriegsverbrechen in Syrien gesprochen. Wer hat diese begangen?

Meine Erfahrungen, die ich während der verschiedenen Kriegsprozesse gewinnen konnte, haben gezeigt, dass in einem Kampf oder in einem kriegerischen Umfeld alle Parteien Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen. Wenn wir auf Syrien kommen, so haben das syrische Regime, die Opposition und die Dschihadisten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Als Kommission haben wir alle Verbrechen in Syrien in unseren Berichten aufgezeigt und dargestellt, von wem sie begangen worden sind.

Wir haben keinen Erfolg gesehen

Wie bewerten Sie die Treffen für eine Verfassung für Syrien, die im Moment unter der Leitung des UN-Syriensonderbeauftragten Geir Pedersen stattfinden? Teilen Sie seine Auffassung, dass diese erfolgreich sind?

Es ist sehr bedauerlich, aber ich habe da bis heute keinen Erfolg gesehen. Ja, im Moment finden in Genf Treffen statt, aber bisher haben wir noch nichts Positives erlebt. Auch wenn es gut sein mag, dass das Regime an den Treffen teilnimmt, muss man doch auf die Ergebnisse der Treffen warten, um sie als Erfolg zu bezeichnen.

Ich verstehe nicht, warum die Kurden nicht eingeladen sind

Wie bei den Genfer Treffen sind die Kurden auch beim Verfassungskomitee nicht eingeladen. Wie bewerten Sie diese Tatsache?

Ich weiß auch nicht, warum die Kurden nicht eingeladen sind, ich verstehe das nicht. Die Kurden müssen zu den Treffen eingeladen werden und an ihnen aktiv teilnehmen. Sie haben aktiv an der Seite der USA gegen den IS gekämpft. Aber heute sind die USA dabei, die Kurden fallen zu lassen. Am allerschlimmsten ist, dass die Kurden gegenüber dem Angriff der Türkei allein gelassen wurden. Sie stehen einer kritischen Situation gegenüber. Es ist bedauerlich, dass die internationale Gemeinschaft sich nicht für die Probleme interessiert, mit denen die Kurden konfrontiert sind.

Anwesenheit der Türkei in Syrien ist völkerrechtswidrig

Wie bewerten Sie die Rolle der Türkei im syrischen Bürgerkrieg?

Zu Beginn des Syrienkriegs hat die Türkei eine gegen das Regime gerichtete Haltung gezeigt. Sie hat der Opposition die Grenzen geöffnet, für ihren Grenzübertritt nach Syrien gesorgt, erlaubt, dass ihr Waffen geliefert werden und diese Gruppen unterstützt. Später kamen die Türkei und Russland, das die syrische Regierung unterstützt, zusammen und die Rolle der Türkei in Syrien begann sich zu ändern. Auch wenn es eine Änderung der Politik gab, so betrachtete die Türkei und insbesondere Erdoğan die Kurden in Syrien weiterhin als großes Problem für sich selbst. Die Grenzsicherheit wurde als Grund angegeben, um internationales Recht ernsthaft zu verletzen und auf das Territorium eines anderen Landes, nach Syrien einzumarschieren. So wurde die Türkei zur Kriegspartei. Dabei handelt es sich um eine sehr ernste Verletzung des Völkerrechts.

UN und internationale Gemeinschaft müssen eingreifen

Im Moment werden Hunderttausende Menschen in Nordsyrien durch diesen Angriff vertrieben. Wie bewerten Sie diese Situation?

Der türkische Staat hat die Sicherheit an der Grenze, die zu keinem Zeitpunkt ein Problem dargestellt hat, als Vorwand benutzt. Es geht eigentlich darum, die Kurden aus der Region zu vertreiben. Das, was mich an dieser Situation am meisten erstaunt, ist, dass die internationale Gemeinschaft und insbesondere die UN keine klare Position gegenüber der Völkerrechtsverletzung durch die Türkei beziehen. Noch mehr hat es mich sehr traurig und wütend gemacht, dass die Kurden nicht vor dem Angriff der Türkei geschützt wurden. Die Situation, mit der die Kurden konfrontiert sind, ist schlecht, ja sehr schlecht, die UN und die internationale Gemeinschaft müssen hier eingreifen.

Wollen Sie sagen, dass der Westen die Kurden verraten hat?

Ja, mit Sicherheit. Diese Situation ist sehr übel. Meiner Meinung nach muss schnellstens eine Lösung für die Lage der Kurden gefunden werden. Aber leider wird nichts getan. Es ist inakzeptabel, dass, statt eine Lösung zu finden, die Kurden allein gelassen werden. Es muss eine akzeptable Lösung gefunden werden.

Alle sprechen von Völkerrechtsverletzung, aber warum schweigen die UN?

Das ist eine gute Frage. Aber es tut mir leid, ich kenne die Antwort darauf auch nicht. Ich kann nur das sagen, dass wichtige Aufgaben wie die leidenden Völker, das Völkerrecht und die Menschenrechte zu bewahren, von Politik und Interessen verdrängt wurden.

Ermittlungen gegen die Türkei einleiten

Denken Sie, dass die Türkei oder der türkische Präsident Erdoğan in Syrien Kriegsverbrechen begangen haben?

Ich habe es schon zuvor gesagt, meiner Meinung nach begehen der türkische Staat und Erdoğan in Syrien Kriegsverbrechen. Syrisches Territorium wird mit einigen Gruppen zusammen besetzt und es werden in Nordostsyrien mit Sicherheit Kriegsverbrechen begangen. Es müssen Ermittlungen zu dieser Situation eingeleitet werden, aber leider wird dies seit acht Jahren nicht getan und es gibt keine Suche nach Gerechtigkeit.

Gut, aber was soll man gegen diese Kriegsverbrechen tun?

Zunächst sollte der UN-Sicherheitsrat einen internationalen Gerichtshof einrichten. Aber Russland stellt sich heute wie schon zuvor dagegen.

Könnte ein internationaler Strafgerichtshof ein Verfahren gegen Erdoğan eröffnen?

Ohne eine Bestätigung des UN-Sicherheitsrats kann der UN-Strafgerichtshof keine Ermittlung einleiten, weil die Türkei das Romstatut nicht unterzeichnet hat. Deshalb muss der UN-Sicherheitsrat die Entscheidung treffen.

Türkei hat die Dschihadisten unterstützt

Es heißt immer wieder, die Türkei habe dschihadistische Organisationen unterstützt. Was können Sie hierzu sagen?

Ja, in den ersten Kriegsjahren hat die Türkei das ganz offen getan. Aber nach dem Übereinkommen mit Russland hat sie ihre Haltung geändert. Anfangs wurden viele dschihadistische Gruppen beispielsweise beim Grenzübertritt unterstützt, ihnen wurden Waffen geschickt und sie erhielten Unterstützung.

Welchen dschihadistischen Gruppen wurde auf diese Weise geholfen?

Ich kann jetzt nicht differenzieren, welche Gruppen unterstützt wurden, aber zu Beginn wurden al-Nusra und die anderen Gruppen unterstützt. Das ist kein Geheimnis, jeder weiß das.

Können die Kurden in Syrien die gegen sie begangenen Verbrechen direkt dem internationalen Strafgerichtshof vortragen?

Leider denke ich, dass die Kurden, nicht über dieses Recht verfügen, weil sie ein Volk ohne Staat sind. Diese Verbrechen können von einem Staat in Den Haag vorgetragen werden. Dass sich die Türkei auf syrischem Territorium befindet, stellt eine Verletzung internalen Rechts dar. Wenn es die Kurden nicht direkt tun können, so könnte der syrische Staat die von der Türkei auf seinem Territorium begangenen Verbrechen vorbringen.

Inakzeptabel, gesamte Last auf Rücken der Kurden zu belassen

Was denken Sie über die zögerliche Haltung der westlichen Staaten, ihre von den Demokratischen Kräften Syriens gefangengehaltenen IS-Dschihadisten zurückzunehmen?

Ich denke vor allem die europäischen Staaten sind dazu verpflichtet, ihre Staatsbürger zurückzunehmen und gegen diese Ermittlungen einzuleiten. Es ist meiner Meinung nach falsch, dass die europäischen Staaten ihre Staatsbürger nicht zurücknehmen wollen. Wir wissen, dass die Kurden eine Unzahl von Dschihadisten und Terroristen inhaftiert haben, aber leider haben die Kurden unter diesen Bedingungen keine Kraft, sie abzuurteilen. Diese Last den Kurden aufzubürden, stellt ein großes Problem dar.

Ich weiß, dass die Kurden deswegen große Probleme haben. Als ich in der Kommission gearbeitet habe, informierten wir den Sicherheitsrat darüber, aber leider ohne Ergebnis. Es muss nun von der EU eine Lösung gefunden werden. Jeder Staat muss sich entscheiden, aber die Länder wollen das nicht. Diese Haltung kommt meiner Meinung nach einem großen Fehler gleich.

Wenn Sicherheitsrat es wollte, könnte ein Gericht in Rojava eingerichtet werden

Könnte nicht ein internationaler Gerichtshof in Nordostsyrien eingerichtet werden?

Ja, es wäre möglich, einen internationalen Gerichtshof für ihre Verurteilung einzurichten. Allerdings müsste der UN-Sicherheitsrat diese Entscheidung treffen. Es ist eine politische Frage, ob dies möglich ist. Aber außerhalb von Syrien könnte ohne Probleme ein internationaler Gerichtshof eingerichtet und die Täter dort verurteilt werden.