Von der Guerillaoffensive vom 1. Juni 2004 bis heute

Die Guerillaoffensive vom 1. Juni 2004 hat den türkischen Staat an den Verhandlungstisch gezwungen und der Revolution von Rojava den Boden bereitet, erklärt Murat Karayilan (PKK) in einer Bewertung zum bewaffneten Kampf in Kurdistan.

Murat Karayilan, Mitglied des Exekutivkomitees der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK), hat sich am Sonntagabend in einer Sendung bei Stêrk TV zu der Guerillaoffensive vom 1. Juni 2004 geäußert. Die Offensive sei nach dem Beginn des bewaffneten Kampfes vom 15. August 1984 der wichtigste Entwicklungssprung in der Geschichte der Guerilla, so die Bewertung Karayilans:

„Die Offensive fand in einer historisch sehr bedeutsamen Zeit statt und leitete eine neue Phase im Befreiungskampf Kurdistans ein. Bekanntlich hat der 15. August 1984 die Politik der Vernichtung, Zermürbung und des Völkermords aufgehalten. In jener Zeit war die Assimilationspolitik in Kurdistan sehr stark ausgeweitet und vertieft worden. Unser Volk befand sich am Rande eines Abgrunds. Die Offensive vom 15. August hat diese Entwicklung gestoppt. Die kurdische Frage wurde damit auf die Agenda gebracht, ans Tageslicht geholt und für eine Lösung auf den Tisch gepackt. Es handelte sich um eine erfolgreiche Offensive von historischer Bedeutung.

Diese Phase dauerte 15 Jahre an, bis zum Jahr 1999. Innerhalb dieser 15 Jahre hat eine revolutionäre Wiederbelebung stattgefunden. Unser Volk hat diese Revolution gelebt und sich für seine eigene Identität eingesetzt. Mit den Serhildan [Aufständen] wurde es zum Teil des Kampfes. Gleichzeitig entstand der Geist einer nationalen Einheit und einer demokratischen Lösung. Der Feind lehnte eine Lösung jedoch ab und nahm Rêber Apo [Abdullah Öcalan] im Zuge eines internationalen Komplotts gefangen. Rêber Apo gab seine Bemühungen um eine Lösung trotzdem nicht auf. Das hatte er bereits 1993 getan und tat es auch im Gefängnis auf Imrali. Auf dieser Grundlage haben wir den bewaffneten Kampf von 1999 bis 2004 eingestellt. Damit es zu keinen Provokationen oder ähnlichen Vorfällen kommen kann, haben wir unsere Kräfte aus dem Norden nach Südkurdistan verlagert. Im Norden sind nur sehr wenige Kräfte geblieben, die große Mehrheit wurde abgezogen. Und trotzdem hat der türkische Staat keinen einzigen Schritt gesetzt. Im Gegenteil, er wollte diese Phase weiter hinauszögern, um uns zu zersetzen und erneut seine Völkermordpolitik gegen unser Volk zu vollziehen. Das war jedoch noch nicht alles. Er wollte über gewisse geschwächte Elemene die Linie unserer Bewegung von innen heraus verändern.

Auch von außen fand eine Belagerung statt. Seine Zersetzungs- und Vernichtungspolitik hat der türkische Staat nie aufgegeben. Schon vorher hatte er ja behauptet, dass die Angelegenheit mit der Ergreifung Öcalans erfolgreich erledigt sei. Seine Beziehungen mit Südkurdistan wurden militärisch fortgesetzt, aber die eigentlichen Beziehungen wurden eingefroren und sogar zu einer roten Linie erklärt, weil er meinte: ‚Bei uns gibt es keine kurdische Frage mehr, wir werden sie vernichten.‘ Dann kam Erdogan an die Macht und sagte: ‚Wenn man nicht darüber nachdenkt, gibt es auch keine kurdische Frage.‘ Gegen die Fortsetzung der Linie des internationalen Komplotts und gegen die Politik des Völkermords, der Assimilation und der Vernichtung trat dann im Jahr 2004 die Offensive vom 1. Juni auf den Plan. Auf dem zweiten Kongress des Kongra Gel wurde der Beschluss gefasst und dann in die Praxis umgesetzt.

Die Offensive vom 15. August fand statt, um die Politik des Völkermords und der Assimilation aufzuhalten. Die Offensive vom 1. Juni war für Freiheit und eine Lösung. Damit eine Lösung entstehen und eine Demokratisierung stattfinden konnte, musste zweifellos zunächst die Linie des internationalen Komplotts, die auf die Vernichtung und Auslöschung abzielte, ins Leere geführt werden. In diesem Zusammenhang hat die Offensive vom 1. Juni eine wichtige Rolle gespielt. Am Anfang haben wir auf aktive Verteidigung gesetzt und immer eine Tür für einen Dialog offengelassen. Es ging nicht um einen sehr gewalttätigen Krieg, vielmehr sollte dem Feind signalisiert werden: ‚Ihr könnt uns nicht auslöschen, ihr müsst euch auf eine Lösung der kurdischen Frage einlassen.‘ Das Ziel der Offensive war also, den Feind an den Verhandlungstisch zu zwingen und auf diese Weise eine demokratische Lösung auf die Agenda bringen zu können. Das war ein Ziel. Natürlich war das wichtigste Ziel, das Komplott ins Leere laufen zu lassen. Der Kampf, der sich mit der Offensive vom 1. Juni entwickelt hat, hat die kurdische Frage erneut auf die Agenda gebracht, aber diesmal nicht nur auf die Agenda der Türkei, sondern der ganzen Welt. Auf dieser Grundlage sind wichtige Ergebnisse zutage getreten. Der türkische Staat war gezwungen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen.

Bekanntlich haben über die Vermittlung ausländischer Kräfte drei Jahre lang Gespräche zwischen dem türkischen Staat und einer Delegation von uns in Oslo stattgefunden. Der türkische Staat hat diese Gespräche beendet und eine Taktik wie in Sri Lanka gegen die tamilische Guerilla angekündigt. AKP-Kreise haben in diesem Rahmen Artikel geschrieben und geredet, es sollte eine neue Phase eingeleitet werden. Der türkische Staat hat mit dem Iran heimliche Gespräche über eine gemeinsame Sandwich-Bewegung gegen uns im Süden geführt und sich darum bemüht, auch die Organisationen in Südkurdistan einzubeziehen. Auf diese Weise fand 2011 ein neuer Angriff gegen uns statt. Dabei konnten die eigentlichen Pläne nicht umgesetzt werden, weil gleichzeitig die Kriege im Mittleren Osten anfingen, die als arabischer Frühling bezeichnet wurden, aber eigentlich zu einem arabischen Winter wurden. Als diese Entwicklungen begannen, gerieten die Pläne des türkischen Staates durcheinander und fielen ins Leere.

Daraufhin hat der türkische Staat eine erneute Gesprächsphase auf Imrali gestartet. Es wurde ein runder Tisch gegründet und es fand zweieinhalb Jahre lang ein Dialog für eine Lösung zwischen dem Staat und Rêber Apo statt, in den auch eine Delegation der HDP einbezogen wurde. In dieser Phase wurde eine Einigung erreicht, aber obwohl die Gespräche unter Erdogans Kontrolle stattgefunden hatten, behauptete er, davon nichts zu wissen. Er leugnete sie und warf den Dialogtisch um. Daraus wurde deutlich, dass die Akzeptanz eines kurdischen Willens im Wortschatz des türkischen Staates nicht vorkommt. Die Kurden sollen immer Sklaven bleiben und für eine Türkisierung herhalten. Sie sollen assimiliert und zu Türken gemacht werden, um sie benutzen zu können. Es ist so oft von Geschwisterlichkeit gesprochen worden, aber in Wirklichkeit gibt es Geschwisterlichkeit und das Recht auf einen eigenen Willen, Sprache und Identität nicht im Wortschatz des türkischen Staates. Er beharrt auf seiner Völkermordpolitik und will die Kurden durch Assimilierung auslöschen. Er wollte von dem Krieg in der Region profitieren, aber er kam nicht weiter und musste dann 2012 einen Waffenstillstand akzeptieren, weil seine ‚tamilische Lösung‘ keinen Erfolg hatte.

Kurz gesagt, es hat sich eindeutig herausgestellt, dass der türkische Staat keine geschwisterlichen Beziehungen mit den Kurden eingehen will. Auch wenn er sich auf einen Dialog einlässt, erkennt er den Willen der Kurden nicht an. Aber die Offensive vom 1. Juni war erfolgreich. Sie hat den Staat an den Verhandlungstisch und die kurdische Frage weltweit auf die Agenda gebracht. Auch in Südkurdistan hat sie großen Einfluss gehabt und für die Bewahrung der dortigen Errungenschaften gesorgt. Denn der türkische Staat hat gegen uns Krieg geführt. Wären wir nicht gewesen, hätte er zweifellos die Errungenschaften im Süden angegriffen.

Und die Offensive hat eine Grundlage für die Revolution von Rojava geschaffen. Der türkische Staat wollte die Guerilla vernichten. Hätte er die Guerilla ausgeschaltet, hätte es dann eine Kraft gegeben, die gegen den IS kämpfen kann? Als Ergebnis der Offensive vom 1. Juni ist in Kurdistan ein sehr umfassender Kampf gegen den IS geführt worden und auf diese Weise hat das kurdische Volk im Mittleren Osten Gewicht bekommen. Heute ist die Strategie des kurdischen Volkes sehr stark. All das ist Ergebnis der Offensive vom 1. Juni, die wiederum die Fortsetzung der Offensive vom 15. August 1984 ist. Der Feind hat trotzdem auf seiner Völkermordpolitik beharrt und wollte darüber Ergebnisse erzielen. Weil ihm das nicht gelungen ist, befindet er sich in einer Krise, er ist bloßgestellt. Natürlich beharrt er immer noch auf dieser Politik, deshalb dauert der Kampf zwischen der Linie von Rêber Apo für eine Lösung der kurdischen Frage und der Völkermordpolitik des Regimes von AKP, MHP, Vatan Partisi und Ergenekon immer noch an. Dieser Kampf wird auch im 17. Jahr nach der Offensive vom 1. Juni in noch stärkerer Form weitergehen.