„In diesem Sinne: Jin – Jiyan – Azadî!“

Vertreter:innen der „Women Defend Rojava“-Komitees aus Deutschland sind mit Asya Abdullah vom Frauendachverband Kongreya Star zusammengetroffen, um sich über die gemeinsame Arbeit und Perspektiven auszutauschen.

Am Wochenende haben sich Vertreter:innen der „Women Defend Rojava“-Komitees aus Deutschland mit Asya Abdullah getroffen. Asya Abdullah, Sprecherin des nordostsyrischen Frauendachverbands Kongreya Star, befindet sich auf einer Rundreise durch Europa. Kongreya Star hatte die internationale Kampagne „Women Defend Rojava“ anlässlich der türkischen Angriffe auf Serêkaniyê und Girê Spî im Oktober 2019 ins Leben gerufen.

Bei dem Treffen machte Asya Abdullah zunächst eine Analyse gegenwärtiger politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen in der Region Nord- und Ostsyrien, aber auch darüber hinaus, und berichtete von den jüngsten Tätigkeiten der kurdischen Frauenbewegung in Rojava. Daraufhin folgte eine Auswertung der bisherigen Arbeit im Rahmen der Kampagne „Women Defend Rojava", unter der seit ihrer Gründung vor zwei Jahren zahlreiche und vielfältige Aktionen stattgefunden haben. Gemeinsamer Abschluss des Tages waren Diskussionen, Austausch und Planung über gemeinsame Perspektiven und nächste Schritte für die Zukunft.

Selbstverteidigung gegen Kapitalismus und Patriarchat

Zur gegenwärtigen politischen Lage sagte Asya Abdullah, dass sich weltweit eine Zuspitzung von Kapitalismus und Patriarchat beobachten lässt. Das kapitalistische Patriarchat schafft Profit mit Unruhen und dem Krieg in Kurdistan. Die Großmächte wollen keinen Frieden vor Ort, weil Frieden das Ausbleiben von Profit bedeutet. „Gestern war es der IS in Syrien und insbesondere in Rojava, heute sind es die Taliban in Afghanistan. Wir wissen nicht, was morgen kommt, aber es betrifft uns Frauen weltweit. Ein Angriff auf eine von uns ist ein Angriff auf uns alle, und genauso gibt uns jeder Erfolg Kraft und jede Niederlage betrifft uns alle", so Asya Abdullah. Sie betonte in ihrer Analyse, dass eine feministische Selbstverteidigung gegen die verschiedenen Formen von Gewalt von Feminiziden über Krieg bis hin zu Vertreibung und der ökonomischen Ausbeutung auf allen Ebenen unerlässlich ist. Die Arbeit in Nord- und Ostsyrien zeige, dass die autonome Organisierung und der politischer Kampf grundsätzlich sind und als Voraussetzung für eine mögliche Befreiung vom Patriarchat verstanden werden müssen.

Krieg ist mehr als militärischer Kampf

Anhand des Krieges in Kurdistan lässt sich beobachten, wie Frauen auf der einen Seite vom kapitalistischen System instrumentalisiert werden, die Krise soll auf ihrem Rücken ausgetragen werden. Auf der anderen Seite wird versucht, Frauen als treibendes Element der Gesellschaft zu brechen. Mit dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention sind die letzten Hemmungen des türkischen Staates gefallen. Die Frauenrevolution wird auf allen Ebenen angegriffen.

Krieg ist mehr als militärischer Kampf, wie Asya Abdullah bei dem Treffen klar darlegte. Krieg ist weitaus vielschichtiger. In ihrer Analyse betonte sie auch die wirtschaftliche Ebene des Krieges, in der der türkische Staat für eine zunehmend instabile Grenzsituation sorgt und die Ressource Wasser als Kriegswaffe nutzt. Das Abkappen der einzigen Wasserzufuhr für die autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens, die Flüsse Euphrat und Tigris in der Türkei, nutzt der Staat systematisch als Kriegswaffe, um das Land auszutrocknen und die Menschen zur Migration zu zwingen.

Asya Abdullah betonte, dass dies als gezielt angewendete Taktik von Erdoğan und seinem AKP/MHP-Regime zu werten ist, um den demografischen Wandel voranzutreiben. Sie hob hervor, welch schwierige und große Verantwortung Frauen tragen: „Wir kämpfen für die Freiheit, gleichzeitig müssen wir ein System gründen und aufrechterhalten."

Vom Krieg betroffenen Frauen eine Stimme geben

Der Selbstorganisation von Frauen kommt eine große Bedeutung zu, da explizit sie von den Kriegsauswirkungen am meisten betroffen sind. Frauen auf der Flucht können sich nicht organisieren, sie werden ermordet, verschwinden, landen in türkischen Gefängnissen, in den Händen des IS oder sterben im Mittelmeer. Eine der Arbeiten von Kongreya Star ist es, trotz der Kriegssituation die Geschichten der Frauen zu dokumentieren und ihnen somit eine Stimme zu geben. „Doch sie werden uns nicht ermöglichen, diese Sachen vor Gericht zu bringen", erläuterte Asya Abdullah.

Im Austausch über die Geschehnisse in den besetzten Gebieten wurde deutlich, dass eine der Aufgaben der „Women Defend Rojava"-Kampagne ist, in Deutschland auf die Dokumentation der Verbrechen in den besetzten Gebieten aufmerksam zu machen und den deutschen Staat als Mittäter für diese Verbrechen in die Verantwortung zu nehmen.

Verteidigung durch Wissen

Zu den Erfolgen von Kongreya Star berichtete Asya Abdullah, dass die autonome Organisierung in Nord- und Ostsyrien es geschafft habe, gesellschaftlich zu arbeiten und dort wichtige Schritte hin zur Geschlechterbefreiung zu gehen. Es wurde eine Frauenquote von 50 Prozent in den Räten, Kooperativen und Gremien erreicht und mit dem Prinzip der genderparitätischen Doppelspitze ein weiterer Meilenstein gesetzt. Die Quote und die Einhaltung dieses Prinzips ziehen sich durch alle wichtigen Bereiche. Es gibt Schutzhäuser, die als sicherer Zufluchtsort dienen und das nicht nur in Konfliktsituationen. Sie bieten Frauen die Möglichkeit, sich gegenseitig zu helfen und zu stärken, in allen gesellschaftlichen Bereichen, wie im Bildungssektor oder Gesundheitswesen - und zwar im weitesten Sinne, weil Frauen sich an Frauen wenden können sollen, wie Asya Abdullah es formulierte. Es gibt Bildungsakademien, zugänglich für alle. Bildungsarbeit stellt auch den gemeinsamen Fokus von Kongreya Star und Women Defend Rojava dar: Verteidigung durch Wissen.

Arbeitsschwerpunkte in Deutschland

Nach den Ausführungen von Asya Abdullah bewerteten die WDR-Komitees ihre eigenen Aktivitäten in Deutschland und kamen in einen Dialog über die zukünftigen Arbeiten. Dabei kristallisierte sich heraus, dass ohne eine autonome Organisierung von Frauen und weiteren unterdrückten Geschlechtern eine Befreiung der Gesellschaft unmöglich ist. In vielen Städten ist Feminizid ein Arbeitsschwerpunkt der Komitees, so zum Beispiel in Berlin und Kassel. Dort wurden Widerstandsplätze gegründet, auf denen sich immer wieder im Kampf gegen Feminizide versammelt wird und getrauert werden kann. Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt ist der Kampf gegen Militarisierung. Das Anprangern und der Protest gegen deutsche Rüstungsexporte durch Konzerne wie Rheinmetall, deren Waffenexporte unter anderem an den türkischen Staat gehen, war zum Beispiel in Braunschweig und Tübingen ein Fokus.

Die Rolle der Bundesregierung beim Krieg in Kurdistan

In der Diskussion wurde betont, dass mit der Kampagne immer wieder auf die Rolle Deutschlands in dem vom NATO-Staat Türkei geführten Krieg in Kurdistan aufmerksam gemacht werden muss, insbesondere, weil es kaum mediale Berichterstattung darüber in Deutschland gibt. „Besatzung ist Gewalt und Besatzung ist das, was in Kurdistan stattfindet", so die Teilnehmenden. Letztendlich gehe es jedoch darum, die Stimmen aller Unterdrückten weltweit zu stützen und die Kämpfe nicht getrennt voneinander zu sehen.

Wendepunkt in der politischen Arbeit und im Leben

Die Vertreter:innen der Komitees in Deutschland brachten am Ende des Treffens zum Ausdruck, wie wichtig der Aufruf von Kongreya Star zur Kampagne „Women Defend Rojava" vor zwei Jahren gwesen ist. Damit sei vielen Frauen und weiteren Geschlechtern sowohl in Kurdistan als auch in Deutschland deutlich geworden, welche immense Bedeutung die autonome Organisierung hat. Die Kampagne und die damit entstandenen Strukturen waren für viele ein Wendepunkt in der politischen Arbeit, aber auch in ihrem Leben, da viele anfingen zu verstehen, was Selbstverteidigung tatsächlich bedeuten kann. Asya Abdullah und Kongreya Star wurde dafür ausdrücklich gedankt. Abschließend erklärte eine Teilnehmerin: „Dieser Internationalismus gibt Kraft und Hoffnung auf Veränderung und den demokratischen Weltfrauenkonförderalismus. In diesem Sinne: Jin, Jiyan, Azadî!“