Ausreise aus Syrien: Ein fast auswegloser Plan

Vor dem 9. Oktober waren schon alle Druckmittel auf dem Spielfeld. Ankaras Drohungen wurden von einem NATO-Manöver und einer Truppenkonzentration flankiert. Ägypten und Iran setzten Syrien unter Druck. Öcalan nutzte eine minimale Chance für einen Ausweg.

In den Tagen vor dem 9. Oktober 1998 wuchs der Druck auf Damaskus ins Grenzenlose. Abdullah Öcalan bezeichnete die Situation im Nachhinein als Versuch, einen zu „99 Prozent“ für ihn „ausweglosen Plan“ zu schaffen. Zu dieser Zeit waren nicht nur Ankara, sondern die Hauptstädte aller Länder des Mittleren Ostens in Bewegung. Manche Länder bezogen schon früh Position und stellten sich im Falle eines möglichen Krieges an die Seite der Türkei oder Syriens. Die Chronologie der kritischen neun Tage vor dem 9. Oktober 1998 ist gespickt von dynamischen Entwicklungen und Entscheidungen.

30. September 1998: Der türkische Ministerpräsident Süleyman Demirel beruft den Nationalen Sicherheitsrat (MGK) ein. Auf der mehr als sechs Stunden dauernden Sitzung befindet sich nur ein Punkt auf der Tagesordnung: Der Kampf gegen Öcalan und die PKK. Die Presse berichtet über die Versammlung, man sei der Überzeugung gewesen, dass der diplomatische Druck keine Wirkung erzeuge, daher seien militärische Optionen diskutiert worden.

1. Oktober 1998: Die Entscheidung des MGK wird in der Rede Demirels zur Parlamentseröffnung deutlich. Demirel droht Damaskus ganz offen: „Trotz all unserer Warnungen und friedlichen Bemühungen bleibt der syrische Staat bei seiner feindlichen Haltung. Hiermit erkläre ich vor der ganzen Welt, dass unsere Geduld am Ende ist. Wir behalten uns unser Recht auf Vergeltung vor.“

2. Oktober 1998: Das türkische Militär zieht Truppen an der syrischen Grenze bei Hatay, Kilis und Dîlok (türk. Antep) zusammen. Der türkische Generalstabschef Hüseyin Kıvrıkoğlu droht Syrien mit einem „nicht erklärten Krieg“.

3. Oktober 1998: Es interveniert nun ein unerwarteter Akteur: Ägypten greift in die durch die Türkei hochgekochte Syrienkrise ein und reist nach Saudi-Arabien. Der ägyptische Präsident Husni Mubarak erklärt nach einer Konsultation mit dem saudischen König Fahd ibn Abd al-Aziz: „Dieser Konflikt muss aufhören, wir müssen die Situation unter Kontrolle bekommen. In diesem Sinne bin ich bereit, in Ankara und Damaskus allen Druck aufzubringen.“

4. Oktober 1998: Mubarak unterbricht seinen Besuch in Saudi-Arabien und kehrt sofort in sein Land zurück. Von dort setzt er sich mit dem syrischen Staatspräsidenten Hafiz Assad und dem türkischen Staatspräsidenten Süleyman Demirel telefonisch in Verbindung. Danach reist er nach Damaskus. Nach einem mehrstündigen Gespräch mit dem syrischen Staatschef verlässt Mubarak ohne jegliche öffentliche Erklärung Syrien. Allerdings bleibt der ägyptische Außenminister Amir Musa in Syrien und erklärt: „Wir bemühen uns darum, einen Kanal für einen Dialog zu öffnen.“

5. Oktober 1998: Mubarak fliegt zu Gesprächen nach Ankara. Noch während er in der Luft ist, erklärt der türkische Ministerpräsident Mesut Yılmaz: „Wir wollen von Syrien Abdullah Öcalan und die anderen Terroristen, um über sie zu richten.“ In den Abendstunden sammelt Yılmaz seinen Stellvertreter Bülent Ecevit und Außenminister Ismail Cem um sich, um die Lage zu bewerten.

6. Oktober 1998: Demirel kommt mit Mubarak zusammen und übergibt ihm ein Dossier mit den Forderungen, die Syrien „erfüllen muss“. Er lässt verlauten: „Sollte man unsere Erwartungen nicht befriedigen, werden wir das Notwendige tun. Was das ist, das wisst ihr besser als wir.“ Mubarak äußert am gleichen Tag im ägyptischen Fernsehen: „Wir haben unsere Vorschläge zur Lösung aller Streitigkeiten zwischen Syrien und der Türkei mitgeteilt.“

7. Oktober 1998: Ein mit Tomahawk-Raketen bestücktes US-Kriegsschiff fährt ins Mittelmeer ein. Gleichzeitig landen in der US-Basis Incirlik viele US-Kriegsflugzeuge.

8. Oktober 1998: Schließlich schaltet sich auch der Iran ein, um zwischen Ankara und Damaskus zu vermitteln. Der iranische Außenminister Kamal Kharrasi reist zuerst nach Damaskus und bricht von dort nach Ankara auf. Nach Angaben der türkischen Presse warnt Demirel das Regime in Teheran, sich nicht hinter Syrien zu stellen. Andernfalls würde auch der Iran Schaden erleiden.

NATO-Truppenkonzentration und Manöver

Während in diesen Tagen die Spannungen zwischen Ankara und Damaskus eskalieren, kommt es zu Drohgebärden im Mittelmeer. Ohne vorherige Ankündigung führen elf NATO-Staaten am 3. Oktober 1998 bei Iskenderun in der Nähe der syrischen Grenze das Manöver „Dynamic Mix 98“ durch. 2.500 US-Marines werden in Iskenderun stationiert. Viele Beobachter deuten dieses Manöver als Vorbereitung für einen NATO-Krieg gegen Syrien. Abdullah Öcalan registriert diese Entwicklung und wird Syrien am 9. Oktober verlassen. Nach dem Ende des Manövers am 15. Oktober werden alle US-Soldaten aus dem Hafen von Iskenderun wieder abgezogen.

Marines vom 2nd Light Armored Reconnaissance Battalion bei der Routenplanung © US-Nationalarchiv NARA

Öcalan: „Untersucht den Palme-Mord“

Öcalan bricht am 9. Oktober aus Damaskus auf und verschwindet eine Woche von der Bildfläche. Am gleichen Tag wird die Sendefrequenz von MED-TV seitens der Türkei gestört. Sechs Tage später, am 15. Oktober, wendet sich Öcalan über MED-TV an die Öffentlichkeit. In seiner Ansprache weist er darauf hin, dass die Unterbrechung von MED-TV am Tag seiner Abreise aus Syrien kein Zufall gewesen sei und er ein internationales Komplott aufgedeckt und zunichte gemacht habe. Er deutet auf den Zusammenhang zwischen der Hexenjagd auf die Kurden nach dem Mord am schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme am 28. Februar 1986 und das Komplott gegen ihn hin: „Die Diffamierung der kurdischen Freiheitsbewegung nach dem Palme-Mord geht auf das Konto der NATO-Struktur Gladio. Damals wurde behauptetet: ‚Der Mordbefehl kam von Apo.‘ Ich würde zu gerne wissen, woher dieser Befehl kam. Genau wie in diesen Tagen veröffentlichte die Hürriyet damals entsprechende Schlagzeilen wie: ‚Wir werden den Befehl morgen veröffentlichen.‘ Aber nichts dergleichen kam. Wären die Hintergründe bekannt gegeben worden, wäre die Maske gefallen und der Umfang dieses Komplotts bloßgelegt worden. Ich bitte das Publikum, unser Volk, die Journalisten und Intellektuellen, den Palme-Mord sorgfältig zu untersuchen. Mit dem aktuellen Komplott befinden wir uns in einer ähnlichen Lage. Die Liquidierung von Olof Palme wirft brennende Fragen auf, die noch immer nicht geklärt sind. Die Aufklärung wird bewusst verhindert.“

„Mein Aufenthaltsort sollte bombardiert werden“

Erst im Jahr 2020 sollte offiziell verkündet werden, dass keinerlei Verbindung zwischen der PKK und dem Palme-Mord bestand. Im Juni gab die schwedische Generalstaatsanwaltschaft bekannt, dass der im Jahr 2000 verstorbene Grafik-Designer Stig Engström an jenem kalten Winterabend im Jahr 1986 Palme erschossen habe und jede Behauptung, die PKK habe etwas mit dem Mord zu tun, „Unfug“ sei. Öcalan erklärte in besagter TV-Ansprache zu den Ereignissen am 9. Oktober 1998: „Als der Empfang von MED-TV gestört wurde, waren wir gerade in der Luft. Langstreckenbomber waren ebenso bereit wie Kriegsschiffe an den Ufern des Mittelmeers, Raketen wegen mir abzuschießen und den Krieg einzuläuten. Es musste bestimmt werden, wo ich mich zu welchem Zeitpunkt aufhielt. Es ging um nichts anderes als ‚Apo‘. Die Zeitungen trugen die Überschrift: ‚Entweder Apo oder Krieg‘. So war es in der Tat. Alles hing an meiner Person. ‚Der Krieg wird beginnen, aber wo ist dieser Mann?‘ hieß es. Die Syrer sagen erstaunt: ‚Wir wissen nicht, wo er ist.‘ Darauf wird geantwortet: ‚Nein, findet ihn und bringt ihn uns.‘ Sie antworten: ‚Gebt uns Zeit‘. Das wird wiederum abgelehnt. Die Zeit war abgelaufen. Es stand alles auf Null. Die Kriegsentscheidung war sicher, aber es war für sie sehr wichtig herauszufinden, wo ich war.

Am 9. Oktober sollten die Bombardierungen beginnen. Um das zu tun, war der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt von Bedeutung. Schaut euch die Aufregung an diesem Tag an. Mesut Yılmaz sagte: ‚Letzte Warnung, es ist Schluss.‘ Es gibt eine Kriegsentscheidung, das weiß jeder. Das Parlament hat unter der Devise ‚Eine Faust, eine Stimme‘ eine Entscheidung getroffen und alle Vollmachten dem Militär übertragen. Es wurde drei Tage daran gearbeitet, meinen Aufenthaltsort zu bestimmen. Das muss man noch weiter beleuchten. Wir hatten bestimmten Freunden gesagt, wo wir zu der Zeit sein könnten. Ich will nicht sagen, dass ich diese Freunde jetzt verdächtige, aber wir werden das untersuchen. Sie sollten zu dem Zeitpunkt eine Zusage, die sie gemacht hatten, erfüllen. Sie hielten diese nicht ein und sagten: ‚Zu dieser und jener Zeit solltest du dich auf solche Weise bewegen.‘ Das habe ich nicht akzeptiert. Ich lehnte ab und sagte: ‚Warum sagt ihr, dass es zu dieser Zeit sein soll? Ich wittere hier eine Verschwörung‘.

Diese Situation führte zu einer rund zweistündigen Diskussion. So etwas war nicht hundertprozentig zu erwarten gewesen. Dieser Vorfall ereignete sich am vergangenen Freitagabend (9. Oktober 1998). Wir waren erstaunt über eine solche Diskussion. Wir meinten, dass irgendein Spiel gespielt wird. Warum versucht ihr diesen Zeitpunkt mit solchem Nachdruck durchzusetzen?‘ Wir vermuteten ein Komplott.“ Daraufhin schlug Öcalan einen anderen Weg ein. Er sagte: „Das war Glück, vielleicht auch Zufall. Zu der Zeit, als sie die Raketen abfeuern wollten, waren wir nicht an dem erwarteten Ort. Sie hatten zwei Orte in Syrien ausgewählt, da wir aber keinen der beiden Orte aufsuchen konnten, funktionierte der Plan nicht. Ich sage es ganz offen, wenn alles ihren Erwartungen entsprechend gelaufen wäre, hätte das einen neuen Krieg im Mittleren Osten bedeutet.“ Öcalan berichtete von Skizzen, die veröffentlicht worden waren und in denen ökonomische Ziele in Syrien ausgemacht wurden. „Ich glaube, sie wollten tatsächlich alle wirtschaftlichen Ziele in Syrien und auch den Präsidentenpalast bombardieren. Die Operation wurde nicht vollendet.“

Interpol als Plan B

Öcalan resümierte im weiteren Verlauf seiner TV-Ansprache, dass die Raketen aus der Türkei auf Syrien nicht abgeschossen worden waren, weil sein Aufenthaltsort unbekannt war, und warnte: „Sie werden es nun noch einmal versuchen, dazu sind sie entschlossen.“ Noch am 9. Oktober wurde eine dringende Ausschreibung für Öcalan per „Red Notice“ über Interpol erstellt. Die Kräfte hinter dem Komplott rechneten bereits damit, dass Öcalan das Land verlassen habe. Zehn Tage nach Beginn der Umsetzung des Komplotts erklärte Öcalan am 19. Oktober 1998 wieder per Liveschaltung bei MED-TV:

„Warum wurde die Red Notice am 9. Oktober ausgestellt? Warum nicht an irgendeinem anderen Tag oder heute? Ein deutlicheres Zeichen eines internationalen Komplotts gibt es nicht. Sie haben das Festnahmeersuchen überall verteilt, es heißt: ‚Wenn diese Person das Land betritt, wird sie sofort festgenommen.‘ Zudem wurde die Information angefügt, dass besagte Person möglicherweise aus Syrien kommt. An diesem Tag gab es verschiedene Alternativen, die in Bombardierungsziele und Einsatzgebiete für Interpol unterteilt wurden. Das ist es, wenn ich davon spreche, einen zu 99 Prozent ausweglosen Plan zu schaffen.

Die Raketen sind vom Mittelmeer bis an die syrischen Grenzen positioniert worden. In Zaxo wurden zehntausend Soldaten stationiert. In Garê sind die Verräter von der PDK zum Angriff übergegangen. All diese Maßnahmen sind dokumentiert. Auf internationaler Ebene ist die Red Notice herausgegeben, in welches Land wir auch immer gehen, wird man uns festnehmen. Und wohin auf der Welt sollen wir bitte gehen? Um sich vor ihnen zu retten, muss man schon in den Weltraum oder auf den Mond fliegen. Das Komplott ist so gestrickt, dass es keinen Ausweg gibt.“

Öcalan berichtete auch, wie er sich dennoch retten konnte: „Natürlich lief nicht alles so, wie es von ihnen geplant war. So viel Technik sie auch einsetzen, wenn man aufmerksam und vorsichtig ist, kann man einen Ausweg finden. Was ich im Moment von meinem Aufenthaltsort aus sagen kann ist, dass wir leben und unseren Kampf weiter stärken werden. Sie werden all ihre Mittel verwenden, um mich zu treffen, um mich zu ergreifen. Sie haben die Völker der Türkei erniedrigt und sind immer noch hinter mir her. Das entspricht nicht einmal Stammesregeln.“

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