Sabri Ok: Europa agiert heuchlerisch und opportunistisch

Während die zweitgrößte Oppositionspartei in der Türkei verboten werden soll und Tausende Menschen in Haft sind, fordert die Bundesregierung eine Distanzierung der HDP von der PKK. Sabri Ok (KCK) findet das heuchlerisch und opportunistisch.

Sabri Ok hat sich als Mitglied des Exekutivrats der KCK im Programm „Rojeva Welat“ bei Stêrk TV zu aktuellen politischen Themen geäußert. Wir veröffentlichen einen kleinen Ausschnitt, in dem Ok die Reaktionen in der Türkei und in Europa, insbesondere der deutschen Bundesregierung, auf das Verbotsverfahren der HDP bewertet:

Die Opposition in der Türkei

Die wesentliche Opposition in der Türkei ist die HDP. Sie betreibt wirkliche demokratische Opposition und vertritt die Rechte und Forderungen der Frauen, der Jugend und der anderen gesellschaftlichen Gruppen. Das weiß auch das faschistische Regime der AKP und MHP. Aus diesem Grund greift es die HDP unentwegt an. Wenn die anderen Parteien, die CHP und die IYI-Partei wirklich oppositionelle Politik machen würden, wäre die Regierung keinen Tag länger an der Macht. Würden alle politischen Parteien zusammenkommen und auf einer Pressekonferenz erklären, dass AKP und MHP das Land wie einen Bauernhof regieren und nur ihre eigenen Interessen vertreten, wäre es vorbei mit der Regierung. Das tun sie jedoch nicht, weil es in ihrer politischen Tradition keine demokratische Kultur gibt.

Angst vor der kurdischen Frage

Vor allem hinsichtlich der kurdischen Frage und beim Thema Demokratisierung der Türkei sind sie feige. Die HDP hingegen agiert an diesem Punkt verantwortungsbewusst und mutig. Das ist der Grund, warum sie auf allen Ebenen angegriffen wird. Zum Beispiel ist zuletzt Ömer Faruk Gergerlioğlu verhaftet worden. Gergerlioğlu ist ein Mensch mit Würde, der die Menschenrechte unter allen Umständen verteidigt. Er ist brutal von einem Polizisten aus seiner Wohnung geholt worden, den er zuvor als Folterer auf die Tagesordnung gebracht hatte. Dieser Fakt steht sinnbildlich für diesen Staat. Kein Mensch soll ein einziges Wort gegen die Regierung aussprechen dürfen. Alle sollen in einen schweigenden und willenlosen Zustand versetzt werden. Die HDP steht den Machthabenden dabei im Weg. Wenn die HDP beiseite geschafft wird, ist die Bahn frei. Der Widerstand und die Haltung der HDP ist in dieser Hinsicht sehr ehrenvoll und wichtig. Sie sollte sich selbst vertrauen und diese Haltung fortsetzen.

Die Schlüsselposition der HDP

Wenn CHP und IYI-Partei nicht für wirkliche Demokratie kämpfen, werden sie nicht über ihren Ist-Zustand hinauskommen. Sie werden niemals an die Regierung kommen. Wenn sie wirklich eine Veränderung wollen, müssen sie ein Bündnis mit der HDP eingehen. Gelingt ihnen das nicht, ist ihre Politik eine einzige Lüge. Das weiß inzwischen auch die Gesellschaft in der Türkei.

Die HDP befindet sich in einer Schlüsselposition. Weil das allgemein bekannt ist, ist ein Verbotsverfahren eingeleitet worden. Hunderten Politikerinnen und Politiker soll ein politisches Betätigungsverbot erteilt werden. Finanzielle Zuwendungen sollen eingestellt werden, damit die HDP ihren Einfluss verliert. Die Angriffe auf die HDP werden weitergehen, das sollte ihr und unserem Volk bewusst sein.

Diskussion über mögliche Alternativen

Dass die HDP verboten wird, ist wahrscheinlich. So wie zuletzt im Fall Gergerlioğlu wird versucht werden, alle Politikerinnen und Politiker ins Gefängnis zu bringen und Angst zu verbreiten. Ihr Wille sollen gebrochen werden. Die HDP diskutiert natürlich intern darüber, welche Alternative möglich ist. Letztendlich wird der politische Weg für die HDP immer offen sein, denn sie ist aus einer politischen Tradition hervorgegangen, hinter der Millionen Menschen stehen. Sie wird ihren eigenen Weg finden. Bisher hat sie Widerstand geleistet, diese würdevolle Haltung sollte sie beibehalten. Das Ausmaß des Widerstands ist ausschlaggebend für die Auswirkungen der stattfindenden Angriffe. Auf internationaler Ebene gibt es Proteste von Institutionen und Personen. Diese Solidarität ist wichtig.

Bundesregierung fordert Distanzierung von der PKK

Die Reaktion der Staaten ist anders. Beispielsweise hat der deutsche Staat vor kurzem eine Erklärung abgegeben, mit der dem türkischen Staat nach dem Mund geredet wurde: Die HDP soll sich von der PKK distanzieren, hieß es in der Erklärung. Warum macht Deutschland das? Es ist genau das, was die AKP täglich wiederholt. Im Wesentlichen muss man die Bundesregierung und die europäischen Staaten folgendes fragen: Wo sind die von Millionen Menschen gewählten Politikerinnen und Politiker jetzt? Warum werden sie ins Gefängnis gesteckt? Alle HDP-geführten Rathäuser sind usurpiert worden, überall wurden Zwangsverwalter eingesetzt. Bis hin zu den Ortsvorstehern werden von Millionen Menschen gewählte Personen des Amtes enthoben und ins Gefängnis geworfen. Danach sollte die EU die fragen. Sie sollte nachfragen, wo diese Menschen sind. Waren alle Terroristen? Europa verhält sich in dieser Hinsicht heuchlerisch und opportunistisch.

Flüchtlingskarte“ als Trumpf gegen Europa

Nach allem, was passiert ist, wird von der HDP tatsächlich eine Distanzierung von der PKK gefordert. Dahinter stehen ausschließlich schmutzige Eigeninteressen. Zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien hat Erdogan auf gerissene Weise erklärt: ,Wir haben gemäß der osmanischen Tradition die Tore geöffnet, alle Menschen können zu uns flüchten.' Durch diesen Aufruf sind Millionen Schutzsuchende in die Türkei gekommen. Diese Menschen werden jetzt auf maßlose und unmoralische Weise als Trumpf gegen Europa ausgespielt. Bei der kleinsten Unstimmigkeit wird damit gedroht, die Grenzen zu öffnen und alle nach Europa zu schicken. Die EU und vor allem Deutschland machen angesichts dieser Drohung alle erdenklichen Zugeständnisse. Ihre Politik wird von gegenseitigen schmutzigen Interessen bestimmt.

Diese heuchlerische und opportunistische Politik hat mit demokratischen Werten nichts mehr zu tun. Es ist ja nicht so, dass Deutschland oder die EU an die Politik oder die Verlautbarungen der AKP glauben würden. Sie machen Zugeständnisse für ihre eigenen Interessen. Wir betrachten diesen Umgang als eine janusköpfige und unaufrichtige Form der Politik.

Dem kurdischen Volk gehört die Zukunft

Darüber hinaus gibt es jedoch viele Reaktionen von Institutionen und Personen in Europa, die wir sehr positiv und wertvoll finden. Die HDP sollte ihre diplomatische Arbeit intensiv fortsetzen. Noch wichtiger ist es, dass unser Volk sich selbst vertraut und seinen gerechtfertigten Kampf weiterführt. Wir sprechen hier von einer jahrzehntelangen Erfahrung und Tradition. Ohne die HDP sieht die Zukunft der Türkei finster aus. In diesem Bewusstsein sollte gehandelt werden. Die Zukunft gehört unserem Volk und der HDP. Eine andere Alternative gibt es nicht.