Neunzig Jahre, 111 Hausdurchsuchungen

Das Leben des neunzigjährigen Ebubekir Yağarcık ist exemplarisch für die widerständige Bevölkerung Nordkurdistans: Sein Haus ist 111 Mal von türkischen Sicherheitskräften durchsucht worden, er hat sich der Staatsgewalt jedoch nie gebeugt.

Nachdem sein Dorf in den 1990er Jahren vom türkischen Staat entvölkert wurde, zog Ebubekir Yağarcık in die Kreisstadt Cizîr (tr. Cizre) in der nordkurdischen Provinz Şirnex (Şırnak), doch auch der Umzug dorthin brachte keine Ruhe: Yağarcıks Haus wurde 111 Mal von „Sicherheitskräften“ gestürmt. Der heute Neunzigjährige ist mit seinem Engagement für lebenslangen zivilen Ungehorsam ein Vorbild für viele unterdrückte Gemeinschaften in der Türkei.

Bevor Yağarcık ins Visier des Staates geriet, lebte er im Dorf Rubar in Şırnak. Doch in den 1990er Jahren wurde das Leben der kurdischen Dorfbevölkerung immer schwieriger. Eines nach dem anderen wurden die Dörfer von den Sicherheitskräften des Staates überfallen, Hunderttausende Menschen – einige Studien sprechen von weit über einer Million Zivilist*innen – wurden gewaltsam vertrieben, da viele Dörfer dem Erdboden gleichgemacht wurden.

Was Ebubekir Yağarcık erlebt hat, könnte ganze Romane füllen: Die türkischen Sicherheitskräfte schlugen seine Tür und Fenster ein, durchwühlten seine Habseligkeiten und durchsuchten sein Haus 111 Mal. Yağarcık musste aufgrund der nicht enden wollenden Razzien, Einschüchterungen und Schikanen durch Polizei und Soldaten zig Mal seine Adresse wechseln.

Als Yağarcık zum ersten Mal in seinem Leben verhaftet wurde, verbrachte er 13 Monate im Gefängnis. „In den 1990er Jahren gab es einen intensiven Druck auf die Kurden. Nachdem ich freigelassen wurde, wurde mein Haus erneut gestürmt und ich wurde festgenommen. Ich wurde acht Tage lang mit Elektroschocks gefoltert", berichtet er in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Mezopotamya. „In diesen acht Tagen bekam ich keine richtige Nahrung, sondern nur Brotstücke und Wasser. Seit dieser Folter sind meine Stimmbänder dauerhaft geschädigt. Ich hatte kein Verbrechen begangen und es gab keine Beweise gegen mich. Dennoch schickten mich die Richter wegen Unterstützung einer [terroristischen] Organisation ins Gefängnis."

Über seine Haftzeit erzählt Yağarcık: „Ich wurde mit sechs anderen Häftlingen in eine Zelle gesteckt. Wir hatten Angst. Sie könnten uns auf der Stelle umbringen und dies auch noch legitimieren. Wir mussten ständig schreien, um nicht dort zu sterben. Also schlug ich immer wieder gegen die Zellentür, um mir Gehör zu verschaffen, damit die anderen Gefangenen uns hören konnten, während der drei Monate, die ich in dieser Zelle verbrachte."

Die Razzien in Yağarcıks Haus wurden in einer scheinbar systematischen Weise fortgesetzt. Alle Mitglieder seiner Familie wurden mindestens einmal festgenommen, eingesperrt und gefoltert. „Ich werde diesem Staat niemals meinen Segen geben", sagt er. „Von meiner achtjährigen Tochter bis zu meinem zwanzigjährigen Sohn gibt es kein Kind von mir, das nicht mindestens einmal verhaftet worden wäre. Bei einer der Razzien zogen sie meinen Sohn nackt aus und brachten ihn nach draußen in den Regen: Sie ließen ihn warten, nackt und durchnässt im Regen."

Jedes Mal, wenn sein Haus durchsucht wurde, befahlen ihm die Sicherheitskräfte niederzuknien, während er verbal und körperlich misshandelt wurde. „Nicht ein einziges Mal habe ich für sie gekniet", sagt er. „Bei einer Razzia im Jahr 2020 habe ich einem Polizeichef gesagt: ,Sie haben mein Haus 111 Mal durchsucht. Das ist beschämend für die Türkei: Jedes Mal versuchen Sie, mich zu zwingen, vor Ihnen zu knien, aber wie Sie sehen, werde ich das niemals tun.'"

Ebubekir Yağarcık sagt abschließend: „Ich werde die Tyrannei des Staates nie vergessen. Außerdem hat mich auch der Staat nie vergessen lassen."